THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 32 - 2014 POLITIK 07.08.2014

 

Ethnische Säuberung zur "Stadtverschönerung": Behörden in Ungarn beginnen mit Zwangsumsiedlung von Roma

Der Beginn der Räumungen in einem städtischen Wohnviertel in Miskolc, das unter das Verdikt der Stadtregierung: "Auflösung von Ghettos und Slums" fällt, hat zu Protesten der Betroffenen und von Romavertretern geführt. Mit Demos vor Ort will man die Zwangsräumung und Zwangsumsiedlung von bis zu 200 Familien und bis zu 600 Menschen verhindern, die - mit jeweils ein paar tausend Euro abgefunden - in eine Behelfssiedlung am Stadtrand oder ganz wegziehen sollen. "Ethnische Säuberungen" nennen das Aktivisten.

Miskolc am Mittwoch: so sieht der “funktionierende Rechtsstaat” aus

Der Fidesz-dominierte Stadrat hatte im April bzw. im Mai den entsprechenden Räumungsbeschluss gefasst und mit einer Wegziehprämie gekoppelt. Die Maßnahme wurde zunächst vor allem sozial und stadtplanerisch begründet, auch wenn die Umstände der Räumung bzw. Aussiedlung keinerlei Verbesserung der Lebensumstände oder gar Perspektiven der Bewohner bedeuteten. Kurz darauf wurde klar, dass die Räumung einzig der Errichtung eines durch ein Sondergesetz finanziertes neus Fußballstadion dient, wie sie in Ungarn zu Dutzenden entstehen und als Basiscamp und Fördermittelumschlagplatz für die neuen Fidesz-Clanchefs dienen. Offizielle Sprachregelung: durch die Räumungsmaßnahmen solle Miskolc "sicherer und lebenswerter" werden.

Am Mittwoch wurden zunächst zwei Wohnungen geräumt, eine davon wurde von einer älteren Frau mit einer Beinamputation bewohnt, die andere von einer Familie mit drei minderjährigen Kindern. Die Eltern waren zum Zeitpunkt der Amtshandlung nicht anwesend. Entgegen gängigen Klischees war der Vater arbeiten und die Mutter bei einer Schulung. Die jetzt betroffenen Familien können nicht einmal mit der “Umzugshilfe” von maximal 2 Mio. Forint (6.600 EUR) rechnen, da sie gerichtlich zur Räumung freigegeben wurden. Mit all jenen Familien, die man nicht über Rechnungsrückstände (teils mit Bagatellbeträgen) gerichtlich aus den Wohnungen bekommt, will “man sich einigen”...

 

Die Fidesz-Stadtregierung, voran Bürgermeister Ákos Kriza, freut sich entgegen der Kritik darüber, dass "der Rechtsstaat in Miskolc funktioniert", "die Räumungen sind legal", "denn die Familien haben seit Jahren keine Mieten an die Stadt überwiesen". Oppositionsparteien, Bürgerrechtler und Betroffenenvertreter sprechen von "inhumanen" und "illegalen" Handlungen seitens der Stadtregierung und legten den Medien Belege vor, die eine Bezahlung der offenen Summen seitens der Mieter belegen sollten. Man weist außerdem daraufhin, dass es sich bei dem "Slum" nicht um eine von den Bewohnern selbst improvisierte Wohnanlage (wie z.B. bei ähnlichen Konfliktherden in Frankreich oder Italien) handelte, sondern eine Wohnsiedlung in der Verantwortlichkeit und im Eigentum der Stadt, die durch Untätigkeit selbst den Verfall und die teils katastrophalen Zustände zu verantworten hat und den Bewohnern, zu denen längst nicht nur Roma gehören, bis auf perspektivlose und so unterbezahlte wie entwürdigende Kommunalarbeit nichts anzubieten hatte.

Die Regierungspartei geht nicht so ins Detail und bezieht sich bei der "Umsiedlungsaktion" lieber auf 35.000 Unterschriften von "Bürgern der Stadt", die diese Maßnahme unterstützen, Stadtsprecher Sóos folgert aus "diesem starken lokalen Support", dass es "kein Zurück geben" könne. Auch hier klingt die bekannte Melodie durch, wonach das "Gerechtigkeitsempfinden" des Volkes über das Recht, notfalls auch über Grundrechte zu stellen ist. Mit der gleichen Propaganda-Mechanik begann vor drei Jahren in Budapest der mittlerweile abgeschlossene Angriff auf die Verfassungsordnung des Landes.

1944 wurden von Ungarn keine Roma in Konzentrationslager deportiert, - behauptete der für die "Romafrage" zuständige Minister Balog vor wenigen Tage. Das ist eine Lüge, es ist Holocaustleugnung. Doch: sogar 2014 werden Roma - und andere soziale Randgruppen - in Ungarn wieder zwangsumgesiedelt, damit die Städte "schöner und sicherer" werden, die Mehrheit frei von sozial bedingter Belästigung leben kann. Das ist amtlicher Rassismus.

Die oppositionelle Jobbik, eine neonazistische Partei und zweitsätrkste politische Kraft in Ungarn, kritisiert an der Fidesz-Aktion lediglich, dass man die Räumung nicht schon vor Jahren durchgesetzt habe, die heutigen Deportationen verteidigt man aber, sie seien lediglich "eine juristische Prozedur". Fidesz setzt - einmal mehr - Jobbik-Politik um.

 

Wie wir hier bereits berichteten, fiel und fällt jedoch auch der "Linken" in Ungarn und speziell in Miskolc bisher nicht viel mehr ein als Law-and-Order-Parolen und die Kommunikation von gutgemeinten Ratschlägen. Die Ratlosigkeit bei der demokratischen Opposition angesichts der am 12. Oktober bevorstehenden Kommunalwahlen ist so groß, dass sich die drei maßgeblichen Mitte-Links-Parteien auf den ehemaligen Polizeichef als Bürgermeisterkandidaten einigten, dessen Einstellung zur Romaproblematik jener des Fidesz zum verwechseln ähnlich ist, von einer Art rassischen Veranlagung zu Kriminalität und Asozialität ausgeht, was Integration und die Instrumentalisierung zu einem selbstbestimmten Leben praktisch ausschließt. Rassismus, wir stellten das in diesem Zusammenhang fest, ist der gesellschaftliche Konsens in Ungarn.

Vorerst haben Roma-Aktivisten und Bürgerrechtsgruppen eine zehntägige Demo-Serie von heute an angekündigt. Der umtriebige Aladár Horváth, Chef der Roma-Bürgerrechtsbewegung, bezichtigte die Stadtregierung nicht nur der "Vetreibung der Armen", sondern einer "ethnischen Säuberung". Orbán solle nach Miskolc kommen und sein früher hier abgegebenes Versprechen, die Roma von Miskolc "zu schützen", jetzt erfüllen. Der Fidesz-Fraktionschef konterte neuerlich: die Sache sei eine Angelegenheit der Gerichtsvollzieher, nicht der Politik...

Kontrastprogramm: Hämmern gegen die Bretter vorm Kopf - Jugendliche aus Duisburg im “Roma-Dorf” Cserdi.

cs.sz. / red.

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