THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 34 - 2014   NACHRICHTEN   17.08.2014

 

Dünne Suppe, dick aufgetragen: Wachstums-, Arbeits- und Schuldenrekorde im ”Tigerstaat” Ungarn

Das Zentralamt für Statsitik, KSH, meldete in der Vorwoche ein Wirtschaftswachstum von 3,9% für das zweite Quartal 2014, nach 3,5% im ersten Quartal. Das höchste Wachstum seit 2006. Der Ausstoß der Industrieproduktion liegt fast 10% über dem Vorjahresniveau. Worauf basiert dieser "Boom" und bringt er dem Land endlich den so lange ausbleibenden Aufschwung? Ein Blick hinter die Zahlen, nämlich auf die Fakten, bringt schnelle Ernüchterung. Auch die Schulden wuchsen, auf beachtliche 85% des BIP!

Hat zwar noch ein Kissen im Gesicht, strahlt aber schon über alle Backen:
Premier Orbán am Freitagmorgen in seiner "Gebetsnische"
im staatlichen Kossuth Rádió. Dass nicht alles Gold ist,
was das KSH übermittelt,
lesen Sie hier.
Höhepunkte aus der Radiosendung 180 Minuten ließ das Amt des Ministerpräsidenten ins Englische übersetzen und publiziert sie stolz
auf seiner Webseite.

Die Daten zum BIP-Wachstum überboten die Erwartungen selbst unabhängiger Volkswirtschaftler. Kein Wunder, dass die Regierungs-PR die Zahlen entsprechend ausschlachtete. Dabei genügte es nicht, Ungarn als "Wachstumsführer der EU" auszurufen, als "mitteleuropäischen Tigerstaat", dessen Performance die "Richtigkeit der wirtschaftspolitischen Maßnahmen" belege, sondern Premier Orbán rechnete diesen "Erfolg" von fast 4% Wachstum in seiner freitäglichen Volksansprache im Radio der "Arbeitswilligkeit der Ungarn" an, die seinem Modell der "arbeitsbasierten Gesellschaft" folgen und das sich nun beginne auszuzahlen. Dazu am Ende mehr.

MTI-Grafik der BIP-Entwicklung seit 2003 bis zum Q1/2014.

EU-Restposten, Autobauer, Wahlkampf und neue Schulden als “Wachstumsmotoren”

So sehr man sich im Interesse aller Bürger in Ungarn über einen Wirtschaftsaufschwung freuen möchte, so wenig belastbar sind diese Zahlen in ihrer Substanz. Kurz gesagt, beruht der "Boom" auf zwei Faktoren: eine Nachfragespitze bei den im Lande tätigen europäischen (überwiegend deutschen) Autoherstellern sowie die überproportionale Ausschüttungsquote von EU-Fördergeldern in der zu Ende gehenden Budgetperiode. Letztere aktivierte monatlich rund 200 Mrd. Forint an Bau- und anderen öffentlichen Infrastrukturaufträgen, um EU-Mittel nicht verfallen zu lassen. Es ist also kein Wunder, dass die Autoindustrie, die Baubranche und der Zivilbausektor die Statistiken anführen. Die Industrieproduktion schoss im ersten Halbjahr sogar um sagenhafte 9,4% nach oben.

Hinzu kommt der Effekt des "Wahlkampfbudgets", denn auch ein fertiggestelltes Fußballstadion (drei Dutzend sind im Bau oder in Planung), ja sogar ein mehrere Millionen teures Denkmal zählt zum BIP, genauso wie der Buchwert der Arbeitsleistung eines Kommunalen Billiglöhners, auch wenn beide steuerlich finanziert sind und weder einen positiven Effekt auf die Kaufkraft, noch auf den Haushalt ausüben und auch keine zukünftige Wertschöpfung hervorbringen. Für die Quartalszahlen sind sie allemal Balsam.

Einen weiteren Einfluss, wenn auch in geringerem Maße, übte das "Kredit für Wachstum"-Programm der Nationalbank aus, bei dem durch Anleihen billiges Geld (in Summe werden es bis zu 10% eines Jahres-BIP sein) in den Markt gepumpt wird, wobei das meiste von der Zielgruppe der KMU überwiegend für Umschuldungen, denn Investitionen eingesetzt wurde.

Der miese Forintkurs, der Ukraine-Konflikt, die nun höheren Basiswerte aus dem Vorjahr (wo auch die Landwirtschaft ein kaum überbietbares Ergebnis einfuhr), allfällige Konjunkturberuhigung im Westen sowie der vorläufige Abschluss der EU-Geldschwemme werden die Investitionen in den kommenden Monaten nicht beflügeln. Den negativen Effekt der sprunghaften, investorenfeindlichen staats(partei)wirtschaftlichen ad-hoc-Politik Orbáns zu berechnen, ist schwierig, da eben diese Politik durch paternalistische Lenkung und Sonderaktionen ihre eigene Wirkung stets zu verdecken sucht.

 

Experten gehen davon aus, dass sich die Regierungs-PR in den kommenden Monaten wohl wieder auf "die ungelöste Krise im Euroraum" herausreden wird müssen, denn die Autoindustrie im Westen wird nicht dauerhaft boomen und selbst in Ungarn ist irgendwann der Wahlkampf zu Ende, ebenso werden die Mittel des auslaufenden 7-Jahres-EU-Budgets bald ausgekratzt sein, angeblich will Juncker beim neuen Budget die Rechnungen genauer prüfen lassen als der gute alte Barroso. Orbán tut gut daran, über seinen Schatten zu springen und sich mit der EU gut zu stellen, denn ohne diese gehen wachstumsseitig in Ungarn die Lichter aus.

Dass das Wachstum der ungarischen Volkswirtschaft auf Pump stattfindet, sehen wir an den heute vorgelegten Zahlen der Nationalbank, wonach die Staatsschuldenquote des Landes im zweiten - also dem Boomquartal auf 85,1% des BIP angewachsen ist. Wieder mal ein Fast-Allzeithoch und wieder einmal eine verfassungswidrige Quote. Um es gleich vorwegzunehmen: alles ist freilich nur eine Momentaufnahme, man liegt in der Planung, zu Jahresende sieht alles ganz anders aus, das Defizitziel wird "auf jeden Fall" erfüllt. Zynisch gesagt: Vor 2006 wuchs Ungarn aufgrund der direkten Verschuldung seiner Bürger über Forex-Kredite, heute verschuldet der Staat seine Bürger indirekt über den Haushalt, um das politisch notwendige Wachstum zu "erzeugen".

Das “schuldenbasierte Wachstum” ist einer der zentralen Vorwürfe Orbáns an den “Westen”. Er macht nichts anderes.

Entwicklung der Brutto- und Nettoschuldenquote (Letztere abzüglich der Forderungen) seit 2005 bis Heute. Quelle: MNB / Grafik: privatbankar.hu

Gefährliche Spielereien mit Reserven und Schulden

Die Schuldenrate im 2. Quartal 2014 ist die dritthöchste seit 25 Jahren und liegt derzeit fast 6 Prozentpunkte über dem Stand von Ende 2013 als die Regierung die letzten Einmaleffekte einsetzte, sprich die Reste der beschlagnahmten, privaten Rentenversicherung. Seitdem müht man sich heftig, Staatsschulden an staatliche kontrollierte Unternehmen auszulagern, um sie aus der Bilanz zu fegen, auch der ab nächstem Jahr anlaufende 10 Mrd.EUR-Kredit aus Russlans soll so "budgetneutral" bearbeitet werden, selbst die bis zu 3 Mrd. EUR Eigenanteil Ungarns am AKW-Projekt soll die "ungarischen Familien nicht belasten".

Man darf gespannt sein, welche "Multis" man diesmal mit einer Sondersteuer belegen will, denn bis auf Audi, Mercedes und Co., das Rückgrat des ungarischen BIP, bleiben keine mehr, die man noch "an den Bürden der Krise" beteiligen könnte. Und Paks ist nicht das einzige Projekt, die Rückeroberung "strategischer Wirtschaftsbereiche" von Banken, über Energie bis hin zum Tabakhandel in "staatliche" Hände (oft dann später wieder in ausgesuchte private, hier ein Modellprojekt), kostet Geld. Manchmal sehr viel mehr als die Objekte der Begierde wirklich wert sind.

Auch der Forint wird sich nicht so bald erholen, was technologiebasierte Importe verteuert. Dass die Banken aufgrund der Forex-Kreditpolitik gegen Jahresende ihre ohnehin schon restriktive Kreditvergabe gegen Null fahren werden, wird ein weiteres Problem darstellen.

Allein den Einfluss des schwachen Forint für die steigende Staatsschuld (die übrigens 20 bis 40 Prozentpunkte über den Quoten der vergleichbaren Nachbarländer liegt) verantwortlich zu machen, greift aber zu kurz, denn der Euro erstarkte im Schnitt der ersten beiden Quartale nur um einen weiteren Prozentpunkt gegenüber dem Forint, was sich nur mit 0,3 Punkten an der steigenden Quote auswirkte. Vielmehr handelt es sich um eine Art Korrektur der Korrektur.

In dem Maße, wie man zum Jahresende 2013 durch das Herausschieben von allfälligen Anleiheverkäufen die Quote frisierte, um der EU und den Bürgern etwas vorzumachen, nahm man 2014 deutlich mehr Gelder an den Finanzmärkten auf, als man unmittelbar zur Begleichung fällig werdender Anleihen benötigte. Das hat mehrere Gründe, simpel gesagt, das staatliche Schuldenamt ÁKK frisst sich derzeit Fett für schlechte Zeiten an, denn es gibt nicht wenige Indikatoren, die besagen, dass die Zeit des billigen, vagabundierenden Kapitals für Ungarn bald vorbei sein könnten. Das ÁKK versucht zudem, vor allem an Inländer (Banken, Institutionelle, Bürger) Schuldpapiere zu verkaufen und sich so von Devisenanleihen unabhängiger zu machen. Das Finanzgeschiebe verdreifachte die gegen Jahresende stark abgebauten flüssigen Reserven der Staatskasse zwischenzeitlich von rund 2,5 auf ca. 7 Mrd. EUR.

Lässt man die "technischen" Spielereien von MNB und ÁKK außer Acht und besieht sich das Schuldenmanagement aus der Adlerperspektive, bleibt ein Staatshaushalt, der dieses Jahr sogar offiziell fast 3% anhäufen und sich damit nicht von der angeblichen Misswrtschaft der "liberalen Demokratien" im Westen unterscheidet. Außerdem gibt es eine ganze Reihe von Schattenhaushalten und kaum Anzeichen für einen substantiellen Aufschwung der ungarischen Wirtschaft, schon gar nicht einen, der seine Ursache in der Politik der Regierung Orbán fände. Im Rahmen dieser Politik profitiert tatsächlich ein neuer und sehr spezieller Mittelstand sehr gründlich und was die Zuteilung von öffentlichen Geldern aus Sondersteuern, "nationalen Prioritätsprojekten" und erst recht EU-Mitteln betrifft, kann man vielleicht nicht von einem Wirtschaftswunder, aber einer Wunderwirtschaft sprechen.

 

Doch kommen wir nochmal auf Orbáns "Arbeitsgesellschaft", die er so lobte, weil sie dem "Willen" und der Einsicht "seines" Volkes entspringt. Die von der EU anerkannte Arbeistlosenquote binnen eines Jahres von 12 auf unter 8 Punkte gesenkt, als er antrat, gab es lediglich 1,9 Millionen Steuerzahler im Lande, nun seien es bereits 4,1 Mio.: Die meisten davon, ca. 1,1 Mio., sind Bezieher der untersten Lohngruppen, die Dank der "Flat tax" um ihren Steuerfreibetrag gebracht wurden, nun also "Steuerzahler" sind. Bravo! 500.000 im Ausland tätige, also Wirtschaftsflüchtlinge werden, so sie in Ungarn gemeldet bleiben (schon wegen der Familie) einfach mitgezählt, ebenso 240.000 Kommunale Billigstlöhner und rund 300.000 zu Gehaltsempfängern umdeklarierte Frührentner.

Rechnet man dieses Schattenheer heraus, bleibt vom Aufschwung: Nichts außer ersten sichtbaren "Erfolgen" der "illiberalen Demokratie". Die "echten" Arbeitsplätze in der freien Wirtschaft stagnieren gegenüber der Nachkrisenzeit hartnäckig, einige Analysten sehen eine Nettoabwanderung von ca. 50.000 bis 80.000 Jobs seit 2010. Wie dünn die Suppe ist, das weiß sogar Orbán und man kann es daran ablesen, wie dick er aufträgt.

Hintergründe zur Wirtschaft in Ungarn

red., cs.sz.

 

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