(c) Pester Lloyd / 06 - 2012
POLITIK 07.02.2012
Aufbruch ins Nirgendwo
Hungermärsche in Ungarn: reales Elend und realitätsferne Politik
Zu einem "Hungermarsch" auf Budapest haben Bürgermeister, Aktivisten und Privatleute aus der nordostungarischen Provinz aufgerufen. Dass die Aktion von der
gescheiterten "sozialistischen" Partei, MSZP, dominiert wird, macht sie politisch wirklungslos, ändert aber nichts an der Richtigkeit der Feststellung, dass Elend,
Armut und Verzweiflung in Ungarn zunehmen. Einige Rechenbeispiele offenbaren den sozialpolitischen Wahnsinn und die Kälte der Regierung.
Ex-Premier Ferenc Gyurcsány zog kürzlich für ein paar Tage bei "einfachen Menschen" in
einen Miskolcer Plattenbau, um zu lernen "wie der Durchschnittsungar" lebt, ein Wissen, das ihm in seiner bald 15jährigen Politkarriere offenbar verborgen geblieben war. Premier
Orbán sprang am Sonntag unauffällig aus einem VW-Bus und inspizierte "überraschend" ein Obdachlosenheim, ein frisch renoviertes freilich. Immer mit dabei: Fotografen und
Hofberichterstatter.
Versagen der Vorgänger und Klientelpolitik der heutigen Regierung - der IWF gibt dem Land den Rest
Nun also "Hungermärsche". Nächste Woche Montag wollen die Marschierer pünktlich zum
Beginn der nächsten parlamentarischen Sitzungsperiode am Kossuth tér vor dem Parlament ankommen. Nach 180 Kilometern durch Minus 20 Grad von Miskolc bis Budapest. „Arbeit
und Brot!“ steht auf den Transparenten, die Teilnehmer wollen die Regierung auf "die auswegslose Situation der Menschen in ihrer Region" hinweisen. Bed und Breakfast stellt die MSZP.
Auf einer am Sonntag abgehaltenen Pressekonferenz wurde deutlich, dass die
oppositionelle MSZP die Aktion federführend unterstützt, man sieht auch Fahnen der
überparteilichen "Szolidaritás". Man weist auf eine "sich verschlechternde Situation hin",
hervorgerufen durch hohe Arbeitslosigkeit und "steigendes Elend durch immer niedrigere
Einkommen und Sozialleistungen" die mittlerweile zu einer "explosiven Situation" führt.
Und die Fakten sprechen eine deutliche Sprache. Zwar war die Arbeitslosigkeit und das
Elend auch unter der MSZP-Regierung hier sehr hoch und nicht zuletzt auch eine Folge verantwortungsloser Kahlschlag-Privatisierungen, von deren Gewinnen nicht wenige
Fuktionäre und Hintermänner dieser und anderer Parteien recht gut leben können und die das Land teilweise sich selbst überlassen haben.
Doch Fakt ist es auch, dass die konsequente Klientelpolitik der Orbán-Regierung die Kluft
zwischen Arm und Reich stetig und in dramatischem Ausmaß vergrößert, die "strukturellen" Sparvorgaben des IWF tun ihr übriges, “die Märkte” sowieso. Es geht um
Umverteilung zu Gunsten der politisch und ökonomisch Mächtigen. Das alte Spiel, das bei weitem nicht nur in Ungarn gespielt wird.
Viele haben fast ein Drittel weniger zur Verfügung als vor zwei Jahren
Was hat die Orbán-Regierung angerichtet als sie die verwahrloste Baustelle Ungarn
übernahm: zunächst hat die Einführung der Flat tax die Einkommensschere zwischen Gering- und Besserverdienern auf einen Schlag um weitere 37% geöffnet. Während die
untersten Gehaltsbezieher zuvor praktisch steuerbefreit waren, entfällt der Freibetrag nun, wenn man nicht wenigstens zwei Kinder vorweisen kann. Doch selbst die Freibeträge
für Familien mit Kindern sind "oft nicht andwendbar, weil die Berechnungsgrundlage geringer ist als der Freibetrag", z.B. bei teilzeitbeschäftigten Müttern, weshalb die
Arbeitnehmer von der "großzügigen Familienförderung" schlicht nichts haben.
Trotz einer gesetzlichen Anhebung des Mindestlohns um 18%, zu dem ja die meisten nur
angemeldet sind, bleibt so (und auch wegen anderer chaotischer Regelungen der flat tax) unter dem Strich gerade so viel übrig wie vorher, im schlimmsten Falle gerade 66.000
Forint für einen Vollzeitjob (ca. 220.- EUR). Die Anhebung des Mindestlohns hatte lediglich die Auftsockung der Sozialabgaben zum Ziel, deren Berechnungsgrundlage zudem auf 150%
festgesetzt und um je 1 Prozentpunkt angehoben wurde. Das hatte wiederum zur Folge, dass die Mindestlohnanstellungen nun nicht einmal mehr auf Vollzeit- sonder nur noch auf
4- und 6-Stunden-Basis erfolgen, weil die Arbeitgeber die höheren Sozialabgaben "kompensieren" wollen. Der Teufelskreis bleibt also bestehen.
Das Ziel der flat tax - die übrigens den Staat in Summe rund 2 Mrd. EUR pro Jahr kostet -
ist angeblich gewesen, Anreize für Arbeit und Steuerehrlichkeit zu schaffen. Doch die Lohnnebenkosten bleiben, relativ im Verhältnis zum Arbeitslohn, die höchsten in ganz
Europa und die Besserverdiener schaffen ihre Mehreinnahmen weder als Investitionen in die Wirtschaft, noch ins Kaufhaus, sondern zur Bank Burgenland, in die Wiener Kärntner
Straße oder freuen sich darüber, ihre Haus-Kredite zu bevorzugten Kursen ablösen zu können, während die Ärmsten mit Räumung rechnen müssen.
Es gibt im heutigen Ungarn kein Argument für die Flat tax, diesen Fetisch des Neoliberalismus, es sei denn man hat die Erziehung einer gehorsamen und gestopften
Mittelschicht als Rückgrat eines neuen Ständestaates zum Ziel und nimmt andauernde Verlendung des unteren Drittels in Kauf.
4 Mio. unter der Armutsgrenze, 25.000 Kinder (!) hungern regelmäßig
Von tieferen Einschnitten sind weiterhin betroffen: Frührentner, deren Status in den eines
Sozialleistungsempfängers umgeändert wurde, ihre Rente wird seit Januar besteuert. Arbeitslose, die nurmehr 3 Monate Arbeitslosengeld erhalten, das niedriger ist als zuvor
und nur unter umständlichsten bürokratischen Voraussetzungen überhaupt noch gezahlt wird, die Sozialhilfe beträgt im Schnitt 22.800 Forint (knapp 80.- EUR). Das Credo der
Regierung hinter all diesen Maßnahmen: 1. Geld sparen, 2. alle in Arbeit "bringen", die arbeiten können. Das Problem: es gibt, zumal auf dem Lande, diese Arbeit schlicht nicht.
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Hinzu kommt, dass die unteren Einkommensschichten und die Rentner von der geradezu
panischen Steuerpolitik der Regierung am meisten betroffen sind, u.a. der auf 27% erhöhten Mehrwertsteuer (Europarekord!), geringeren Kassenzuzahlungen auf Medikamente und etliche weitere neue Steuern und indirekte Abgaben. Rechnet man alle Effekte zusammen und schließt die Teuerung von Grundnahrungsmitteln und Wohn- und
Heizkosten sowie den Anstieg der Belastungen für Forex-Kredite mit ein, ergibt sich für die unteren Einkommensschichten ein durchschnittlicher Verlust an real verfügbarem
Einkommen von bis zu 30% binnen zwei Jahren. Es gibt Länder, da gehen die Menschen für einen Bruchteil davon auf die Barrikaden.
Laut Statistiken, die sich an einer von der UN festgelegten Kennzahl orientieren, lebten im
Jahre 2009 rund 2,7 Mio. Menschen in Ungarn unter dem Existenzminimum, die MSZP behauptet, heute seien es rund 4 Mio. Eine Zahl, die wir nicht durch offizielle Statistiken
verifizieren können, obige Rechnung jedoch schon, was die Annahme doch wahrscheinlich macht. Seriöse Studien sagen aus, dass 25.000 Kinder in Ungarn regelmäßig "hungern",
weitere 400.000 nicht "angemessen ernährt werden". Zahlen, die vom Roten Kreuz verifiziert sind und von den damals regierenden Sozialisten zugegeben werden mussten.
Diese sollten genügen, den Ernst der Lage jenseits von Parteipolitik klar zu machen.
Das Fidesz glaubt, Frohndienste seien eine Problemlösung
Der Fidesz-Funktionär László Sebestyén "bedauerte, dass abgewrackte MSZP-Mitglieder
tatsächlich die mit schweren Schicksalen kämpfenden Menschen, für parteipolitische Zwecke missbrauchen“. Er griff Nándor Gúr, einen der Haupt-Organisatoren scharf an,
diesem habe während der "Gyurcsány-Bajnai-Ära" schließlich "ein ganzes Firmennetzwerk zur Verfügung gestanden, um die staatlichen Investitionen in die Region möglichst
unkontrolliert versickern zu lassen", damals habe er jedoch noch keine Hungermärsche zum Parlament mitorganisiert.
Premier Orbán am Sonntag auf Spontanbesuch bei Obdachlosen
Sebestyén meinte, dass die Regierung im Komitat mittlerweile über 30.000 Menschen durch öffentliche
Arbeitsprogramme Arbeit verschafft hätte und das Innenministerium seit 2009 insgesamt 15,4 Millarden Forint (ca. 53 Mio. €) Unterstützungsgelder in die
Region gepumpt habe. Der brave Mann gesteht damit ein, dass auch diese Regierung den Menschen nicht die Möglichkeit gibt, sich aus eigener Kraft zu
versorgen, geschweige denn, sich eine Zukunft aufzubauen.
Ex-Premier Gyurcsány bei “normalen Leuten” in Miskolc
Diese Arbeitsprogramme bringen den Betroffenen
maximal 100 EUR mehr im Monat, dafür leisten sie aber eine Arbeit, die das Vielfache ihrer "Stütze" ausmacht, würde sie richtig bezahlt. Doch hat man
für dieses "Programm" rechtzeitig den Mindestlohn außer Kraft gesetzt und droht Verweigerern mit komplettem Einkommensentzug - für drei Jahre.
Frohndienst nannte man so etwas früher einmal. Vor allem in den vielen in diesem Komitat von Roma besiedelten Orten kann man sehen, wohin das führt.
MSZP: "Betroffene leider zu hungrig zum mitmarschieren"
Soweit die Regierung, sichtlich angefressen, weil die Bilder von "Hungermärschen" schnell
um die Welt gingen, was in Budapest eher die Eitelkeit trifft, denn das schlechte Gewissen, wie die anstehende Diätenerhöhung und die dauerhafte Schönrednerei belegt.
Doch auch das Dilemma der Organisatoren von der MSZP-Opposition spricht Bände: die Betroffenen hätten mit "existentiellen Problemen" zu kämpfen und könnten daher nicht
alle selbst mitmarschieren, daher handelt es sich bei den Teilnehmern "um Abgesandte von mehreren zehntausend Menschen allein aus dem Komitat Borsod-Abaúj-Zemplén", wird
behauptet. Dennoch hofft man, dass sich, je näher man der Hauptstadt kommt, mehr Menschen anschließen. Illustriert wurde das Aufgebot einer Partei, die es aufgrund der
eigenen Verfehlungen schwer hat, sich in breiten Wählerschichten wieder Glaubwürdikeit zu verschaffen, so aufrichtig der einzelne MSZP-Bürgermeister es auch meinen mag, mit
Berichten von Betroffenen, deren Schilderungen nachvollziehbar sind, aber dennoch instrumentalisiert wirken.
Fehlt nur noch, dass Gyurcsány an der letzten Kreuzung wartet
Da berichten Arbeiter von Verzweiflungstaten in der Nachbarschaft, Geringverdiener
sprechen von Entwürdigung, ein Arbeitsloser erinnert die Regierung an ihre Verantwortung. Der Bürgermeister von Alsógagy, László Takács von der MSZP erzählte,
dass er mittlerweile aus privater Tasche bedürftigen Einwohnern des Dorfes Geld gebe, damit die sich Medikamente leisten konnten. "Von 22.800 Forint Rente kann man
höchstens verhungernd verrecken" ruft er aus. Seiner Meinung nach gebe es nicht den Hauch einer Hoffnung auf Besserung der Situation und daher nun der "Hungermarsch".
József Füzesséri, Bürgermeister von Szikszó, auch MSZP, merktan, dass es „skandalös ist, dass man im 21. Jahrhundert in Ungarn über im Elend und Hunger lebende Menschen sprechen müsse.“
Daher werde man "am 13. Februar, dem ersten parlamentarischen Sitzungstag der
post-republikanischen Ära“ in Budapest sein. Genauso gut, könnte man aber auch an einer Würstchenbude oder Tankstelle halt machen, ändern wird es nichts. Heute wurde bekannt,
dass die Abgeordneten sich, durch "ein neues System" der Diäten, demnächst einen Zuschlag von rund 230.- EUR auf ihre Einkommen, also die dreifache Sozialhilfe
genehmigen werden. Aber immerhin sei nun "alles transparenter", verspricht ein Fidesz-Abgeordneter. Nun fehlt nur noch, dass sich Ex-Premier Gyurcsány, der sich
mittlerweile eine eigene Partei gebastelt hat, am Ortseingang von Budapest dem Hungermarsch anschließt, um das Bild des heutigen Ungarn zu vervollständigen. Das Elend
ist real, auf allen Seiten.
Christian-Zsolt Varga / Marco Schicker / red. Fotos: MTI (1-3), MEH (4), MSZP (5)
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