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(c) Pester Lloyd / 21 - 2012     GESELLSCHAFT 22.05.2012

 

Die wilden Reiter von Absurdistan

Vom Steppenidyll zur Rassentheologie: Warum Ungarn nach Osten blickt

Jurten mit eigenartigen Runen darauf, indianerähnliche Trachten wie aus schlechten Western, Flaggen mit archaischen Symbolen, Bücher mit waghalsigen Theorien, sogar ein Schamane aus fernöstlicher Steppe im nationalen Parlament. Die rechte Szene in Ungarn definiert die Herkunft des Magyarentums neu, Wissenschaft spielt keine Rolle, jedoch der Wille, sich als edle, verfolgte Rasse aus dem wilden Osten zu inszenieren. Was dem Beobachter nur lächerlich, ja geradezu absurd erscheint, hat brandgefährliches Potenzial.

Wilder Ritt durch die Geschichte. Historisierende Treffen und Festivals erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Was für die einen Spaß und Spiel, ist für die anderen der Beginn einer neuen Ära der Selbstbesinnung.

Erste Impulse zur "Neudefinition des Ungarntums" lieferte der "Geschichtslehrer" Gábor Vona, Parteichef der rechtsradikalen Partei Jobbik schon vor Jahren. In "intellektuellen Kreisen" der extremen Rechten kursierten Arbeiten, wonach die finno-ugrische Abstammungslehre nicht mehr zu halten sei, man müsse sich dagegen auf die alten Quellen beziehen. Dabei macht man sich den Umstand zu Nutze, dass die Ethnologie, die Erforschung der Völkerwanderungen und Abstammungslehren komplexe und fluide Wissenschaften sind. Durch überlieferte Irrtümer, wackelige Quellenlagen und immer neue Erkenntnisse durch Ausgrabungen gibt es keine endgültigen Anworten, kaum eindeutige Ergebnisse und - wie es die Natur der Wissenschaften ist - werden immer neue Fragen gestellt.

Mythen-Coktail aus Skythen, Hunnen und anderen Reitern

Was man auf der einen Seite nicht endgültig beweisen kann, kann man auf der anderen auch nur schwer widerlegen, denken sich die rechten Vordenker und bauen auf diesem Gerüst ihre neue Abstammungslehre auf, die eher eine Rassentheologie als -theorie ist. Der Wille als These. Man beruft sich dabei vor allem auf zwei Werke, eine Aufzeichnung eines unbekannten Verfassers sowie eine Chronik vom Ende des 13. Jahrhunderts, "Gesta Hunnorum et Hungarorum", die einem Simon Kézai zugeschrieben wird.

Horthy-Huldigungen, pseudowissenschaftliche Abstammungslehren, Volkssagen und Runenwörterbücher auf einem Tisch...

Selbstfindung mit der historischen Wünschelrute

In den "Taten der Hunnen und Magyaren" steht geschrieben, dass der Vater Árpáds, ein Sohn Attilas des Hunnenkönigs war. Hinterfragt wird das nicht. Die andere Linie bezieht man auf die aus Südrussland, dem Uralgebiet und rund um das Schwarze Meer auftauchenden Skythen, jene Reitervölker, die dann später auch ins heutige Osteuropa kamen. Die Wissenschaft spricht, verkürzt wiedergegeben, von einem bunten Haufen mehrfach hin- und her assimilierter und durchmischter Stämme, die in einer Art Waffenallianz auf der Suche nach Beute und neuen Lebensräumen unterwegs waren.

Doch die - wie auch immer konstruierte - Verbindung zwischen Skythen und Hunnen, die Legende der Urväterprinzen Hunor und Magor (heute übrigens zunehmend beliebte Vornamen), die Geschichte von den Zauberhirschen, der Turul, Attilas Schatz in der Theiß und sonstwo und andere Legenden, taugen den Ideologen der Rechtsextremisten als reine Lehre von der reinen Rasse, zur Selbstfindung mit der historischen Wünschelrute. Diese Ursprungsmythen werden dann mit tatsächlichen Traditionen der Besiedlungszeiten verwoben und so ist die lange Hirtenpeitsche und das Kesselgulasch selbstverständliches Requisit auf nationalen Festen, - dass der Mais dazu einen slawischen Namen trägt, wird einfach ausgeblendet.

Runenortsschilder trifft man immer häufiger an

Hunor statt Humor

Man stelle sich nur bei einem Frühlingsfest der NPD vor, dort würden Leute herumlaufen, die wie Indianer aus dem mittleren Westen oder Reiternomaden aus der Zeit Dschingis Khans wirken. Es wäre grotesk. Man würde denken es wäre Karneval und die deutschen Rechtsradikalen hätten so etwas wie Humor. Bei Veranstaltungen der ungarischen Rechtsradikalen im Dunstkreis von Jobbik sind Leute in ähnlichen Aufzügen gang und gäbe, mit Humor hat das jedoch nichts zu tun, eher mit Hunor - und mit Kalkül. Ein Wunder nur, dass noch niemand darauf gekommen ist, dass im Wort magyarisch auch arisch steckt. Und wer weiß...

Was den deutschen Herrenrassen-Ideologen die Arier waren, sind den neuen ungarischen Experten die Turanier. Das klingt ein bisschen nach Star-Wars, aber Turan ist eine gedachte Blut-Gemeinschaft der Turk-Völker, der Ungarn und sogar bis nach – je nach Auslegung – Korea oder ins ferne Japan. In der Praxis ist diese Theorie ungefähr so relevant und aussagekräftig wie die indo-germanische Geschichte, kein deutscher Nazi kann heute noch die Vorstellung ertragen, eigentlich Inder zu sein. In Ungarn ist man stolz auf den exotischen Einschlag.

Ungarn: die Palästinenser Europas

 

Und die selbst ernannten Abstammungsexperten finden auch hier den Bogen ins Heute: „Im Laufe der Geschichte der turanischen Länder wurden diese von Fremden besetzt: Semiten, Perser, Chinesen, Griechen, Römer, Slawen und Germanen. In vielen Fällen wurden die indigenen turanischen Völker und werden noch immer von Völkermord, Kolonisierung, Deportation, oder Assimilation unterworfen. Fremdherrschaft hat nicht nur große Verluste in demographischer und kultureller Hinsicht verursacht, sondern auch schwere wirtschaftliche und ökologische Schäden durch die Ausbeutung und Verschmutzung der turanischen Länder durch Staaten wie Russland (früher Sowjetunion). Angesichts all dieser Schwierigkeiten müssen die turanischen Völker kämpfen, um ihre eigene kulturelle Identität zu bewahren und ihre Rechte zu behaupten.“ klärt uns eine im Internet kursierende Abhandlung auf. Die Konsequenz des neo-paganistischen (also neu-heidnischen) anti-christlichen Denkens wird klarer, Semiten (also u.a. Juden) sind Fremde und damit unungarisch, Römer und Griechen als Symbol für Demokratie und Fortschritt ebenso, Slawen, die Ungarns Nachbarn sind, gleichfalls.

Großungarn und die Runenschrift

Es wird zwar schwer erklärlich, wie die Rechte in Zukunft dann mit den ganzen Némeths, Horváths und Tóths in ihren eigenen Reihen umgehen will, aber auch Rom wurde schließlich nicht an einem Tage erbaut. Hinsichtlich der Rosenfelds und Goldmanns war man sich schon früher einig und angesichts des oben erläuterten Konstrukts erklärt sich auch die häufige Selbstbenennung der Ungarn als die "Palästinenser Europas". Bitte nicht lachen.

Das Árpádsche Großungarn bietet also die Lösung: die altungarische Runenschrift, die lustigerweise wieder sehr an die nordischen Runen erinnert, aber wahrscheinlich eher auf türkische Einflüsse zurückgeht, die eine Verschriftlichung des Ungarischen vor der Einführung des Lateinischen ermöglichten, ist nicht nur bei Veranstaltungen der Jobbik oder auch bei Konzerten von Rechtsrock-Bands Shirts als Tattoo oder CD-Covern zu sehen. Mittlerweile werden immer mehr Ortsschilder, auch in der Budapester Peripherie mit dieser Schrift ausgestattet, wie ein Raubtier sein Revier markiert. Dazu schwänkt man die Fahne des Hauses der Árpáden, wohlwissend, dass diese auch das Symbol der faschistischen Pfeilkreuzler war. (Mehr dazu)

Wo sich christliche und heidnische Mythen kreuzen

Nicht zuletzt baut sich mittlerweile eine ganze Mythen-Industrie auf die Theorien auf, die auf einschlägigen Veranstaltungen – wie beispielsweise bei
Jobbiks "Nationalem Maifest" – um Kundschaft wirbt, um Peitschen, Gürtel, Armreifen, Ledertaschen etc. mit (pseudo) historischen Motiven an den Mann zu bringen, bis hin zum großungarischen Taxibetrieb.

Die Hunnen, Árpáden, Magyaren kommen? Man weiß es nicht genau...

Nächster Höhepunkt ist Pfingsten: bis zu einer halben Million Menschen aus Ungarn und Rumänien (ethnische Ungarn) werden auch dieses Pfingsten wieder ins rumänische Sumuleu Ciuc / Csíksomlyó in Siebenbürgen pilgern. Die "nationale Wallfahrt" hat sich in den letzten Jahren vom katholischen Event zum völkischen Glaubensbekenntnis entwickelt, wo sich christliche Traditionen und ebenso absurde heidnische Mythen kreuzen, wogegen weder die Protagonisten der sonst so regelgestrengen katholischen Kirche, noch jene der völkischen Aufsicht etwas einzuwenden haben - Hauptsache man glaubt, Hauptsache man ist Ungar. Die Spitze des Eisberges: es gibt tatsächlich studierte Menschen in diesem Land, die eine Blutslinie der Ungarn bis hin zu Jesus Christus nachweisen können wollen. Der Dávincsi-Code sozusagen.

Ein heidnischer Schamane weiht im Parlament der Republik die heilige Krone

Am 10. Mai übergab eine ungarische Delegation einen „Baum des Lebens“ an Vertreter Kasachstans. Die ganze Aktion wurde von einer „Ungarisch-turanischen Stiftung“ (Magyar-turán alapítvány) organisiert, die eine genetische Verwandtschaft der Ungarn mit diversen Völkern Zentralasiens proklamiert, wie z.B. Usbeken, Kirgisen, Uiguren, Tschetschenen etc aufgrund der schon behandelten gemeinsamen „Herkunft“ und „Abstammung“ von historischen Steppenvölkern wie den Sarmaten, Skythen etc.

Ein weiterer Höhepunkt, und damit soll unsere Rundreise durch das neopaganistische Revival bald ein Ende finden, war der Auftritt des Schamanen Ojun Adigzsi See-Oglu am 21. März im ungarischen Parlament (Foto rechts), der einen ritualen Tanz aufführte um die heilige Krone zu beschützen. Das war nicht die Geste eines ausländischen Gastes, das war der Auftritt eines Blutsbruders...

Die heilige Stephanskorne, durch einen heidnischen Ritus im republikanischen Parlament geweiht? Willkommen in Absurdistan. Wie können Orbáns Regierungspartei Fidesz und erst Recht der kleine Koalitionär, die christlichen Eiferer der KDNP als neue Bannerträger des Christentums in Europa damit leben? Wenn Erdgas, Investitionen und Devisen fließen und die Rechten eine spielerische Ablenkung finden, die die eigene Macht nicht in Frage stellt, offenbar ganz gut.

Die Nazis treiben die Rechte vor sich her

Der Ostmythos wird von der extremen Rechten als Gegenkultur zum dekadenten, judenverseuchten Westen entwickelt. Für die ungarischen Ideologen ist der Feind nun überall und natürlich auch mitten in der Gesellschaft: Juden, Linke, Liberale, Modernisierer, Roma passen alle nicht in das Steppenidyll und werden somit aus der Volksgemeinschaft implizit herausdefiniert. Doch die Aktionen bleiben nicht nur im Dunstkreis von Jobbik hängen. Dankbar sehen die völkischen Ideologen die
"Ostöffnung" der Orbán-Regierung hin zu neuen "strategischen Partnern" jenseits der EU: Russland, Saudi-Arabien, Iran, Kasachstan.

Gerade der Iran ist das Liebkind der ungarischen Neonazis geworden, auf dem Schreibtisch des Bürgermeisters von Gyöngyöspata steht eine iranische Flagge, es gibt mehrere Städtepartnerschaften mit dem islamistischen Land, das "Israel von der Weltkarte tilgen" will, Jobbik lud ein und tischte auf. Auch Regierungsvertreter suchen nach - zunächst - wirtschaftlichen Anknüpfungspunkten, noch auf "Expertenebene".

Steppen-Equipment für den großungarischen Outdoor-Einsatz.

Genauso dankbar darf Jobbik für die Aufnahme völkischer Autoren in den nationalen Lehrplan sein. Man treibe Fidesz vor sich her, brüstete sich Geschichtslehrer und Jobbik-Chef Vona gerade auf seinem Parteitag. Neben Runenschriften schießen Horthy-Denkmäler, längst nicht nur aus braunem Boden, werden Museen umgestaltet, wird eine offen revanchstische, großungarische Politik betrieben (ein Beispiel), der Verteidigungsminister ruft die Ungarn auf, "wieder zum Reitervolk zu werden", der Vizepremier möchte der Jagd wieder "zu alten Ehren" verhelfen - natürlich nicht aus völkischen Motiven, das ist aber der Propagandaabteilung von Jobbik egal, ab 2014 will man die Sache, also das Land, selbst in die Hand nehmen.

Am Ende stand der Untergang

Ungarns extreme Rechte kann also offenbar doch weiter zählen als bis 1921, dem Jahre als die Verträge von Trianon das Land nach dem Ersten Weltkrieg zerrissen haben. Dem seit damals gepflegten Opfermythos gesellt sich heute ein vertiefter und neu belebter Herkunftsmythos hinzu - als Marketinginstrument für Identitätsfindung, Abgrenzung des "Nichtungarischen" und letztlich zum Wählerfang.

Doch die neue Retrowelle ist nicht mit dem vollkommen nachvollziehbaren Bedürfnis nach Selbsterkenntnis, mit der Suche nach Antworten auf die Fragen: wer sind wir, wo kommen wir her, zu erklären. Sie schwoll an im Fahrwasser des Hasses und der Schaffung eines neuen Feindbildes, der Kreation von Sündenböcken und der Machtanmaßungen.

Die Rassenlehre der deutschen Nazis war auch nicht nachvollziehbar, die sich bei den nordischen Göttern bediente und aus Halbwahrheiten, Mutmaßungen und Legenden eine ganz ähnliche "Theorie" zimmerte, die am Ende aber in praktischer Politik der Ausgrenzung, Unterdrückung, Verfolgung und letztlich mit Krieg und dem systematischen Mord an Millionen und auch dem Untergang der "Herrenrasse" endete.

Philipp Karl, ms, red.

 

IN EIGENER SACHE
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