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(c) Pester Lloyd / 42 - 2013   GESELLSCHAFT   16.10.2013

 

Taschengeld vom "Big Brother"

Ungarn perfektioniert mit EU-Millionen den Überwachungsstaat

Die ungarische Regierung wird ein "nationales", aber international kompatibles System zur Sammlung von Flugpassagierdaten anlegen. Das teilte am Dienstag Innenstaatssekretär Károly Kontrát mit, der als Aufgabe dieser Datenbank den "Kampf gegen das organisierte Verbrechen und den Terrorismus" angab. Doch es besteht der dringende Verdacht, die EU-Anforderungen werden hier nur vorgeschoben, um ein System der Totalüberwachung zu vervollständigen. 5 Millionen Euro bezahlt die EU dem kleinen ungarischen Bruder dafür. Doch wer schützt die Ungarn vor ihrem Staat?

Mit der Begründung, man müsste einer EU-Vereinbarung zum automatischen Informationsausstausch mit den USA, Kanada und Australien nachkommen, soll das System der Speicherung und Übermittlung von Fluggastdaten entsprechend kompatibel gemacht werden. Staatsekretär Kontrát fügte hinzu, dass man "ähnliche Vereinbarungen dann auch mit Russland, Südkorea, Japan, Qatar, Mexiko, den Emiraten, Brasilien und Saudi-Arabien" schließen könne. Dazu wurde das entsprechende Gesetz ins Parlament eingebracht.

Oppositionspolitiker, aber auch mit Datenschutz befasste Experten, hegen Zweifel, dass das System nur den o.g. Gründen dienen wird. Denn die im Gesetzentwurf vorgesehene Speicherdauer der Daten von fünf Jahren halten sie für völlig übertrieben und willkürlich. Linke wie rechte Opposition fürchten, dass die Regierung die "EU-Vorgaben", die sonst bei Fidesz oft nicht das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt wurden, nur vorschieben, um sich eine gigantische Datenbank mit den Bewegungs- und Kontaktprofilen der Bürger anzulegen.

Grüne und MSZP fordern daher auch "gesetzliche Garantien", dass die Daten nur zum genannten Zweck eingesetzt werden und eine Sanktionierung von Verstößen.

 

Kriminalitätsbekämpfung, Steuerbedarf und Jugendschutz als Einstiegstore

Mag die Übermittlung und Speicherung von Passagierdaten allein noch harmlos klingen, im Gesamtpaket bekommt sie eine tiefere Bedeutung: die ungarischen Behörden bereiten seit Jahren konsequent das legislative und technische Umfeld für eine massive Überwachung und einen direkten Zugriff der Internetnutzung der Bürger vor. Über das Vehikel des "Kinder- und Jugendschutzes" vor "gefährlichen Inhalten" und zur "Bekämpfung staatsgefährdender Kriminalität" kann der Medienrat schon heute ohne Richterbeschluss die Provider zur Sperrung bestimmter Seiten und Anbieter verpflichten, auf deren Kosten.

Bürgerrechtler und Linke macht man durch eine “Lex kuruc” geschickt mundtot, da man als Anlass für ein entsprechend zu formendes Gesetz die Verfolgung einer neonazistischen Internetseite heranzieht. Die Seite gibt es immer noch, aber bald hat die Regierung eine universelle juristische Handhabe zur Verfolgung politisch missliebiger Publizistik in Händen. Einen ähnlichen Effekt erzielte man bereits, in dem die gesetzlich besonders sanktionierten “Verbrechen aus Hass” gegen ethnische und sonstige “Minderheiten und Mehrheiten” bisher vor allem zu Strafverschärfungen gegen Roma führte, während er gegen Nazis noch nie rechtskräftig angewandt wurde.

Desweiteren hat man durch einen weiteren "Trojaner", nämlich die kommende Steuerpflicht für "Online-Gambling" grundsätzlich Zugang zu allen Bezahlsystemen und Kreditkartendaten vorgesehen, die im Internet von Usern angewendet werden. Über die neu eingeführte Telefoniersteuer, die jedem Kunden zuzuorden ist (wenn auch lt. Telekoms eigentlich anonymisiert) wiederum lässt sich - zumindest theoretisch - relativ umstandslos ein Kontakt- und Kommunikationsprofil von Kunden erstellen, auch ohne, dass man erst einen großen Lauschangriff starten müsste. Hat man nun noch die Bewegungs- und Reiseprofile über Flugdatenbank, ergibt sich für Fahnder, aber auch andere Neugierige ein recht vollständiges Bild.

Maximale Vollmachten bei minimalem Aufsehen

Es ist hier daran zu erinnern, dass diese Regierung bereits am Beginn der Legislaturperiode den Wunsch nach einem neuen, mit umfassendsten Vollmachten ausgestatteten Geheimdienst hegte und vorstellte und davon auch nur deshalb wieder Abstand nahm, weil man erkannte, dass man Aufsehen, Bedenken und Proteste einfacher umgehen konnte, in dem man die schon existierende Antiterroreinheit TÉK aufrüstet, direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt und mit umfangreichen Vollmachten und Zugriffsrechten ausstattet, bei gleichzeitiger Geheimhaltung "aus nationalem Sicherheitsinteresse", die sogar eine richterliche Kontrolle unterbindet.

Es gibt keine effiziente Überwachung der Geheimdienste mehr

Ursprünglich war sogar die Installation einer Bringepflicht für alle Betreiber von Kundendatenbanken vorgesehen, mittlerweile hat man über Gesetzesänderungen, Erfindungsreichtum oder die "Hilfe" der EU das Ziel einer möglichen Totalüberwachung der Bürger auch so fast vollständig erreicht und somit den größten Albtraum von Datenschützern und Bürgerrechtlern wahr werden lassen. Diese Art der Datensammlung ist in der Praxis noch gefährlicher als die hochstilisierte, aber wohl überschätzte Datenkrake NSA, die zwar alles hat, aber damit nicht viel anfangen kann, während die einheimischen Behörden direkten Zugriff auf die Existenz jedes Einzelnen haben.


Vereidigung von TÉK-Beamten, mit dem Rücken zum Publikum, aus Sicherheitsgründen...

Fakt ist, dass es in Ungarn heute kein verlässliches Gremium gibt, dass die missbräuchliche, behördenübergreifende Sammlung und Verwendung von privaten Daten, aufdecken und anprangern könnte, dafür sorgen sowohl die Verschwiegenheit der Beteiligten, aber auch die Fidesz-Dominanz des parlamentarischen Kontrollgremiums, die "Umgestaltung" derDatenschutzbehörde sowie eine gesetzliche Einschränkung des Informationsfreiheitsgesetzes. Das Verfassungsgericht kommt auch nicht in Frage, dessen unpassende Entscheidungen werden einfach durch Änderungen der Verfassung selbst negiert. Die Regierung kontrolliert sich also selbst und züchtet über eine zentralistische "Universität der Exekutive", die in ihrer Aufmachung an die finstersten Kaderschmieden des Ostblocks erinnert, schon die nächste Generation willfähriger und gehorsamer Pflichterfüller heran. Der Rektor dieser famosen Einrichtung wurde übrigens gerade Leiter der nationalen Wahlkommission...

Diese Regierung hat viel zu verlieren

Die Mehrheit mag sich heute noch nicht vorstellen, was für machtbesessene Politiker eines Tages alles unter "staatsgefährdende Kriminalität" fallen kann. Doch dazu braucht man kein Verschwörungstheoretiker zu sein, etwas Hellhörigkeit genügt, wenn Fidesz-Politiker davon sprechen, dass: "... es in Zeiten wirtschaftlicher Krisen möglich sein kann, dass andere Regierungsarten als die parlamentarische Demokratie notwendig werden" (Premier Orbán) oder davon, dass
"das Parlament zu viel Einfluss auf die Regierung" habe, die mehr "mit Dekreten" operieren sollte (Parlamentspräsident Kövér). Wer jede politische Auseinandersetzung zum "Krieg" oder "Freiheitskampf"  hochpusht, illegal Gesinnungslisten von Wählern anlegt (Fidesz-Generalsekretär Kubatov) und den politischen Gegner permanent als "linke Mafia" bezeichnet, die Geheimdienste auf NGO´s ansetzt (im Fall Gyöngöspata), die eigenen Beamten ohne Anlass pauschal vom Geheimdienst überwachen lässt, der wird im Falle drohenden Machtverlustes auch nicht vor "Notstandsmaßnahmen", Diffamierung aufgrund illegaler Datensammlungen (bei den Vorgängern ja schon gerichtsanhängig) und Kurzschlusshandlungen zurückschrecken - zumal, wenn man so viel zu verlieren hat wie die heutigen Machthaber.

Schutz der Freiheit durch Abschaffung der Freiheit?

Die Forderung der Opposition nach strikter Kontrolle und Transparenz sowie Beschränkung des Systems der Speicherung und Übermittlung von Fluggastdaten, um ein unkontrolliertes Weiterreichen und "Umherfliegen" der Passagierdaten zu vehindern, ist daher völlig berechtigt und sogar förderungswürdig. Die EU hätte die besonderen Umstände in Ungarn, den Umsturz der Kontrollhirarchien, bei der Vergabe der Mittel bedenken und an Auflagen koppeln müssen.

Denn die bürgerliche Freiheit sollte von der EU mindestens die gleiche ideelle und materielle Unterstützung erhalten wie das Bedürfnis nach Schutz vor Terroristen, der nämlich ganz genau das Gegenteil bewirkt, wenn man die zu schützenden Freiheiten durch den Schutz selbst beendet oder durch Missbrauch einschränkt.

red. / ms.

 

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