THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

Das Pester Lloyd Archiv ab 1854

 

Hauptmenü

 

 

 

Effizient werben im
Pester Lloyd!
Mehr.

 

(c) Pester Lloyd / 47 - 2013 GESELLSCHAFT 18.11.2013

 

Tanzen für die “weibliche Revolution”

Kongress: Frauen in Ungarn wollen nicht mehr warten "bis Blut fließt"

Ungarn hinkt bei der Gleichberechtigung der Frauen dem Rest Europas einige Jahrzehnte hinterher. Zu diesem Fazit kam ein stark besuchter Frauenkongress in Budapest. Das gilt für den Opferschutz bei häuslicher Gewalt ebenso wie für den Zugang zu Führungsposten in Politik und Wirtschaft. Das Land brauche endlich eine Emanzipationsbewegung, eine weibliche Revolution, fordert eine - westliche - Aktivistin. Doch erstmal geht es um Minimalstandards und mehr eigenes Engagement der Frauen. Aber selbstbewußte und gleichberechtigte Frauen passen nicht ins Weltbild dieser erzkonservativen Regierung.

Tanzen gegen Gewalt und für Gleichberechtigung:
ein amerikanischer Gaststar bringt die ungarische Frauenbewegung in Schwung

Eklatant ans Licht der Öffentlichkeit geriet der alltägliche Horror, dem Frauen auch durch ihre eigenen Partner ausgesetzt sind, durch einen (jetzt ehemaligen) Fidesz-Abgeordneten, József Balogh, der seine Frau im Frühjahr krankenhausreif prügelte. Nach Monaten der Ermittlungen, legte er erst Anfang November ein Geständnis ab, seine Fraktion hatte ihn zwar suspendiert, aber erst am 6. November aus der Partei ausgeschlossen. Seinen Sitz im Parlament darf er vorerst behalten, das Verfahren ist noch nicht terminiert.

Anfang November veröffentlichte die ungarische Sektion der NGO Human Rights Watch einen 58-seitigen Bericht unter dem Titel: "Bis Blut fließt: der Mangel an Schutz bei häuslicher Gewalt in Ungarn". In diesem werden strukturelle und gesetzliche Schwächen beim Schutz von Frauen vor wiederholter, brutaler Gewalt innerhalb der Partnerschaft und / oder im häuslichen Umfeld dokumentiert. Politik und Gesetzgebung verweigern, so das Urteil, angemessene Hilfestellung für Frauen. Sie werden als Opfer sich selbst überlassen. Erst seit Juli gibt es eine Gesetzesänderung, die häusliche Gewalt als eigenen Straftstatsbestand behandelt und nicht als gewöhnliche Gewaltanwendung einstuft.

Denn bisher musste das Opfer selbst die rechtlichen Schritte gegen den Täter einleiten, während es nun Polizei und Staatsanwaltschaft aus öffentlichem Interesse tun sollen. Verfahren wurden bisher nur "im Wiederholungsfalle" eingeleitet und es mussten deutlich sichtbare Spuren der Gewaltanwendung vorliegen, also "Blut fließen". Diese Hürden hielten bisher zu viele Frauen von rechtlichen Schritten ab und ließ Täter ungeschoren davon kommen. Weitere große Defizite hat die ungarische Exekutive bei der Ausbildung und Senisbilisierung von Vernehmern, Polizisten und Sozialarbeitern in solchen Fällen. Zwar gibt es Vereine, die Hilfestellungen bieten, aber die sind fast nur in Städten präsent, die Frauen auf dem Land - noch dazu dem Druck des "guten Rufes" ausgeliefert - bleiben ohne jeden Ansprechpartner.

Ein Mann traute sich aufs Podium und beginn prompt einen Faux pas.

Der schwere Ausbruch aus manifestierten Strukturen

Martá Mészáros, sie brachte 1968 als erste Frau einen Spielfilm in Ungarn heraus, steht als erste Rednerin am Pult des Frauenkongresses, der am Montag den 11. November im Congress Center Budapest stattgefunden hat. Sie zeigt sich überrascht über die hohe Anzahl von 800 Teilnehmern, davon sind schätzungsweise 10 männlich. Der Großteil ist zwischen 50 und 70 Jahren, aber auch junge Studentinnen sitzen im Publikum. Mészáros kritisiert die Passivität der ungarischen Frau: „Überall auf der Welt sind enorme gesellschaftliche Veränderungen zu sehen, die den Frauen Perspektiven schaffen. Warum klappt dies nicht in Ungarn?“. Im Publikum herrscht betretenes Schweigen. Die ungarische Filmregisseurin, die in Moskau aufgewachsen ist, glaubt an das Potential der neuen Generation. Ihre Argumente: die neue Intellektualität der Frau und ihr Wunsch in andere Länder zu reisen. „Ungarns traditionelle Rollenbilder müssen reinterpretiert werden, Frauen müssen lernen aus den manifestierten Strukturen auszubrechen“. Danach verlässt sie die Bühne.

 „Warum ist ein Frauenkongress wohl in Ungarn notwendig?“

Im Gegensatz zu Mészáros bezeichnet die amerikanische Aktivistin Eve Ensler, die vor allem durch ihr Theaterstück „Vagina-Monologe“ bekannt wurde, sich selbst als Feministin. Sie ist heute Ehrengast. Worte wie „Missbrauch und Vergewaltigung“ nehmen an diesem Tag zum ersten Mal den Raum ein. Nach ihren Worten werden weltweit drei von vier Frauen Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch. Was diese Taten aus einem machen und wie sie das weitere Leben beherrschen, erläutert sie im Zusammenhang mit „Männerdominanz und patriarchalischen Machtstrukturen“. Auch Ensler wird als Kind innerhalb ihrer Familie vergewaltigt. Dem Saal stockt der Atem bei jedem Satz, der ihre
Botschaft an die Frauen stützt: „Warum ist ein Frauenkongress wohl in Ungarn notwendig?“.

Gebärmaschine: Reaktionäres Frauenbild im ungarischen Macho-Parlament

Viele Ungarinnen betreten Neuland, indem sie für sich als Frau einstehen. Die familiäre Situation, die traditionellen Strukturen scheinen festgezurrt. Wenn die Frau Karriere und Familienzuwachs miteinander vereinbaren möchte - oder muss, weil es materielle anders nicht geht, wird es problematisch. Immer weniger Kinder werden geboren, dafür wollen und / oder müssen immer mehr Frauen auf den Arbeitsmarkt. Kann auch der ungarische Mann daheim bleiben und auf die Kinder aufpassen, kochen, Wäsche waschen, putzen? Die Fidesz-Regierung hat dafür eher die Oma im Visier, Frauen bekommen nach 40 Berufsjahren in Ungarn die "volle Rente, damit sie auf ihre Enkel aufpassen können und die Eltern arbeiten gehen können", begründet die Regierungspartei ihren Schritt. Auch andere Gesetze und Initiativen sehen die Frau eher als Gebärmaschine denn selbstbestimmtes Wesen. Kein Wunder, immerhin gab Premier Orbán selbst stolz zu, das sein Familienbild “mehr als 4000 Jahre alt” ist.

Männerwirtschaft mit weiblicher “Dekoration”.
Gruppenbild der aktuellen Fidesz-Fraktion im ungarischen Parlament.

Und überhaupt ist das Frauenbild im zu 91% von Männern dominierten Parlament überholungsbedürftig. Als endlich, nach viel Druck von NGO´s und Opposition und nach 100.000 Unterschriften das Thema "Strafrechtsanpassung häusliche Gewalt" ins Plenum kam, äußerte sich ein Vertreter der Regierungspartei tatsächlich so: wenn die Frauen mehr Kinder bekommen, steigt ihr Ansehen in der Familie, womit sich das Problem der häuslichen Gewalt dann von selbst erledigt.  - Der Aufschrei danach kam von der Opposition und von Frauengruppen, nicht den vielen "Familienschutz"-Vereinen im Umfeld des Fidesz, von denen eine - im Auftrag eines Ministeriums - sogar EU-Gelder vewandte, um eine regelrechte Hetzkampagne gegen Abtreibung zu starten. Nach einigem Hin und Her gewährte die Fidesz-Partei dann der häuslichen Gewalt einen eigenen Strafrechtsparagrafen, "auf Wunsch der Damen", wie der Fidesz-Fraktionschef mit unverhohlener Überheblichkeit kommentierte.

Frauenquoten als Instrument des Wandels, nicht als Selbstzweck

Angesichts der reaktionären Ansichten der Regierungsfraktion und des ererbt scheinenden "Hungaromachismo" in praktisch allen Schichten der Bevölkerung mögen Fragen der Einführung von Frauenquoten wie aus einer fremden Welt stammend wirken. Doch die Vorreiter in dieser Frage, Länder wie Island, Finnland, Norwegen und Schweden, wo die Parlamente beinahe zur Hälfte weiblich sind und in den Ministerien die Quote teilweise noch höher liegt, belegen, dass diese Quote nicht als Selbstzweck dient, sondern als Instrument, um Frauen auf politischer Ebene sichtbar zu machen, einen Trend zu kreieren. Auf dem Kongress kommt heraus, dass es in Skandinavien sowieso viel gerechter zuzugehen scheint als anderswo.

Ungarn dagegen liegt im Parlament mit 8,8 % weit hinter dem europäischen Durchschnitt von 26,3 %. Das soll aber nicht so bleiben, glaubt man den ungarischen Parteienvertretern des Europäischen Parlamentes, die am Kongress teilnahmen. Sowohl die Demokratische Koalition (DK) als auch die LMP (Grüne) befürworten die Einführung einer Frauenquote. Bernadett Szél von der Partei „Gemeinsam 2014“ (E2014) fordert sogar 30 % Frauenpräsenz im Parlament. „Für die Umsetzung werden auch Männer benötigt, die die Frauen coachen, damit auch sie sich endlich mit Politik identifizieren können. Irgendwann, vielleicht im Jahr 2028, wird die Quote aber vergessen sein“, so Szél.

Rassische und soziale Stigmata als Systemmerkmal

Gábor Simon von der MSZP und als einziger Mann im Diskurs, beteuert die Wichtigkeit, die Frauen auch als solche, mitsamt ihren individuellen Eigenschaften anzuerkennen: „Die Politik wäre viel stressfreier, wenn die Weiblichkeit und die Empathie der Frauen in den Vordergrund rückt. Sie wäre vielleicht weniger Macho?“. Simon, der mit der Zuordnung der "klassisch weiblichen" Attribute aus feministischer Sicht natürlich sehr dünnes Eis betritt, stellt den Aspekt in den Raum, dass nicht einmal alle Männer in Ungarn gleichberechtigt sind. Indirekt spricht er damit natürlich die gelebte, teils amtliche Diskriminierung der Roma an und wirft damit die Frage auf, wie eine Gesellschaft, die rassische und soziale Unterschiede als Stigma hinnimmt und fördert, überhaupt dazu befähigt sein soll, den Frauen gleiche Zugänge und Rechte einzuräumen. Der Fehler steckt also im System.

Ágnes Vadai von der DK glaubt, dass die Gleichberechtigung der Frauen in Ungarn nicht über das EU-Parlament erreicht werden kann. Vielmehr müssten Frauen selbst für ihre Präsenz sorgen. Zum Beispiel in den Medien, wo nicht nur weibliche Inhalte repräsentiert werden sollten.

Frauen nicht in die Küche schicken, sondern prügelnde Männer ins Gefängnis!

Viktor Orbáns Name fällt an diesem Tag zunächst nur hinter vorgehaltener Hand. Offensichtlich wird der Wunsch seiner Abwahl im Frühjahr 2014 dann aber, als Tímea Szabó (PM) ihren Traum von einer weiblichen Premierministerin äußert; einer, die die Frauen nicht zurück in die Küche schickt, dafür aber Männer wie József Balogh hinter Gitter. Der Saal jubelt.

Die Regierungspartei schickte keine Vertreterin.

Der ungarische Staat hat noch nicht einmal die gängigen internationalen Schutzabkommen ratifiziert, wie die sogenannte Istanbul-Konvention. Selbst Bosnien und Herzegowina tat dies am 7. November. Noch zwei Länder sind nötig, damit die Konvention in Kraft treten kann. 32 Staaten haben immerhin schon unterzeichnet. Ungarn nicht. Bisher unterschreitet Ungarn die Erfüllung seiner Verpflichtungen aus den internationalen Menschenrechtsnormen bezüglich dem Schutz von Gewalt an Frauen, stellen die dachlich versierten NGOs fest.

Hilfestellung im Kleinen, Hilflosigkeit im Großen

„Frauen brauchen Netzwerke, kleine Gruppen, die sich organisieren. Viel zu oft denken wir, wir wären alleine, aber das stimmt nicht!“. Das sagt Orsolya Nyilas, sie arbeitet für den Mobilfunkkonzern Vodafone, der ein internationales Pilotprojekt zum Schutz vor Gewalt an Frauen gestartet hat. Zunächst in Spanien ab 2004, nehmen derzeit 6 Staaten aktiv teil. In Budapest haben bislang 33 Frauen aus dem 9., 7. sowie 12. Bezirk im Rahmen des Projektes eine spezielle Handy Sim-Karte erhalten, die mit einem Tastendruck sofortige Hilfe von dafür geschulter Polizei und Sozialarbeitern herbeiruft. Auch gibt es die Anti-Gewalt-Hotline NANE, es gibt einzelne Frauenschutzhäuser und Vereine, die rechtlichen Schutz anbieten. Doch diese können nur Ergänzung sein, zu einem Staat und einer Regierung, der sich dem Grundrecht auf Gleichberechtigung nicht länger verweigert.

Am 14. Februar weltweiter “Aufstand”

 

Für die amerikanische Aktivistin Eve Ensler ist die Lösung all der erwähnten Problematiken in Ungarn der Feminismus – denn eine weibliche Revolution hat es im Männer dominierten Ungarn noch nicht gegeben. Zumindest könnte es ein Anfang sein, um die ungarischen Gesellschaftsstrukturen in eine neue, gleichberechtigte Perspektive zu rücken. Solch eine, die sich nicht gegen die Männer, aber für die Frauen mit ihren Männern einsetzt. Ohne Gewalt, versteht sich. - Dann zeigt sie einen Kurzfilm über ihr Projekt „One Billion Rising“: ein globaler Streik, der zum Tanzen als Ausdruck unserer Kraft einlädt, als ein Akt der weltweiten, gemeinschaftlichen Solidarität gegen Gewalt gegen Mädchen und Frauen. Als Auftakt für den 14. Februar 2014 – wenn sich in aller Welt, auf jedem Kontinent, in mehr als 199 Ländern, Frauen und Männer erheben, um ein neues Bewusstsein und das Ende dieser Gewalt zu fordern – ermutigt Eve Ensler auch das Publikum aufzustehen, um gemeinsam zu tanzen. Verwunderung wandert zunächst über die Sitzreihen; es sieht so aus, als kullern Freudentränen. Dann erheben sich immer mehr
Frauen und treten auf die Bühne. Sie tanzen für Gerechtigkeit - ihre und die aller - sie wollen nicht mehr warten, "bis Blut fließt"...

Theresa Glöde / red.

Aus dem Pester Lloyd von 1914
Max Nordau: Die Frau in der Politik
http://www.pesterlloyd.net/html/1914nordaufrauinderpolitik.html

Aus dem Pester Lloyd von 1916
Max Nordau: Die Umwertung der Geschlechter
http://www.pesterlloyd.net/html/1916nordauumwertung.html

Aus dem Pester Lloyd von 1917
Béla Balázs: Frauen in der Politik
http://www.pesterlloyd.net/html/1917balazsfraueninderpolitik.html

Der Pester Lloyd bittet Sie um Unterstützung.