THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

Das Pester Lloyd Archiv ab 1854

 

Hauptmenü

 

 

 

 

(c) Pester Lloyd / 37 - 2014   GESELLSCHAFT   10.09.2014

 

Brüssel, hilf! - Orbán gegen die Zivilgesellschaft: EU soll Norwegen zur Zahlung an Ungarn zwingen

Am Dienstag haben die Kontrahenten im NGO-Konflikt ihre Standpunkte zu den Vorfällen vom Montag dargelegt. Norwegen und Ungarn sind sich einig: Eine Annäherung bleibt in weiter Ferne. Die Regierung in Budapest beharrt auf der totalen Kontrolle der Gelder und Förderinhalte, sie will die Zivilgesellschaft beherrschen. Ungarn fordert jetzt die EU auf, "der Gerechtigkeit zu dienen" und Norwegen zur Fortsetzung der Zahlungen zu zwingen. Die Argumente sind die eines Wegelagerers. Auch die Fonds der Schweiz sind mittlerweile involviert.

Polizeiliches Großaufgebot zum “Schutz” der Zivilgesellschaft. Am Montag wurde die Chefin der Ökotárs-Stiftung nach Hause “begleitet”, “um ihren beschlagnahmten Laptop abzuholen”.

Update, 11.09., 17:30 Uhr: Ein Sprecher der EU-Kommission sagte, angesprochen auf die regierungsseitigen Attacken auf NGO´s in Ungarn, dass man “zum jetzigen Zeitpunkt keine spezifischen Aussagen zu diesem Thema” machen könne.

Erstbericht, 10.09.: János Lázár, der nahezu allmächtige Kanzleramtsminister von Premier Orbán, stellte vor der Presse am Dienstag klar, dass die Regierung nicht gewillt ist, die bestehenden Verträge mit Norwegen zur Behandlung der Fonds einzuhalten und auf der Kontrollübernahme durch eine von ihm geführteRegierungsbehörde bestehen wird.

Was "öffentlich" ist, bestimmt die Partei

Die Argumentation Budapests: bei den Geldern handelt es sich um "öffentliche Mittel", deren Vergabe den gleichen gesetzlichen Bestimmungen und Grundsätzen unterliegt, wie bei den EU-Geldern oder Haushaltsmitteln, wobei die Exekutive dafür sorgen müsse - und dazu diente angeblich auch die montägliche Polizeiaktion - dass sie zweckentsprechend und "nicht zum Vorteil einer politischen Partei" verwendet würden.

Diese Anmerkung ist angesichts der
kreativen Verteilung der EU-Milliarden an parteinahe Kreise ein besonders eindrückliches Zeichen dafür, wie sicher "die Familie" sich ihrer Macht zu sein scheint. Überhaupt ist "öffentliche Mittel" ein sehr dehnbarer Begriff: Steuergelder z.B., die für den Bau eines Stadions der privaten Stiftung des Ministerpräsidenten (Pancho Arena der Puskás Fußball Akademie) flossen (Steuerzuweisung für "beliebte Sportarten") gelten im Orwellschen Jargon Orbáns nicht als "öffentliche Mittel", sondern sind "freiwillige Spenden aus den Gewinnen fleißiger Unternehmer"...

Norwegen: Unser Geld, unsere Regeln

 

Norwegen stimmt mit Lázár in genau einem Punkt überein: dass es sich um öffentliche Gelder handelt, - allerdings norwegische, deren Verwendung in einem bilateralen, beidseitig ratifizierten Vertrag niedergelegt ist und über die Norwegen in erster Linie seinem Volk, resp. Parlament, nach den beschlossenen Vorgaben Rechenschaft schuldet. Natürlich haben sich die Begünstigten an die ungarischen Gesetze zu halten. Die ungarische Regierung ihrerseits aber auch. Doch hat diese die Vergabe- und Kontrollabläufe durch den Versuch der Übernahme durch das Amt des Ministerpräsidenten (bzw. der von Lázár geführten Nationalen Entwicklungsagentur) zu unterlaufen versucht und ist damit vertragsbrüchig geworden. Ein Fehlverhalten der NGO´s ist bisher nicht nachgewiesen, nur behauptet worden. Punkt.

Kein Zurück zum Vertrag = kein Geld

Das weitere Vorgehen - von der Kampagne über "ausländische Einmischung in innere Angelegenheiten" bis zur Kriminalisierung der regierungsunabhängigen Organisationen - bestätigte den norwegischen Europaminister, Vidar Helgesen, zudem darin, dass die Handlungen der Regierung gegen eine Entfaltung der Zivilgesellschaft gerichtet seien, weshalb nur eine Rückkehr zum vereinbarten Modus eine Aufhebung die Sperrung beenden kann. Die Regierungsferne und der Aufbau einer unabhängige Zivilgesellschaft sei schließlich ein Hauptzweck der Norwegian Grants. Norwegen werde am bewährten System festhalten, das sowohl über eine regierungsunabhängige Kontrollbehörde in Brüssel wie über eine mit Regierungs- und NGO-Vertretern gleichermaßen besetzte ministerielle Kommission in Budapest funktionierte und sich auch künftig nicht den Machtanmaßungen der Regierung beugen.

NGO´s hätten sich illegal als Banken betätigt

Um den Standpunkt der ungarischen Regierung zu untermauern, behauptet Lázár, dass sich die inkriminierte Stiftung Ökotárs, die für einen Teil der Norwegian Grants als Verteiler für Projekte von zwei Dutzend NGO´s fungierte, gesetzwidrig verhalten habe, in dem sie Gelder in Höhe von rund 1,3 Mio. EUR als Kredite an 13 NGO´s vergeben habe. Belege dafür lieferte er nicht. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es sich um die üblichen Projektvorschüsse handelt, die erst bei Abschluss und Abnahme als endgültige Zahlungen abgerechnet werden. Dadurch behält der Geldgeber einen höheren Einfluss auf die vertragskonforme Umsetzung als wenn er die Gelder pauschal überweist, sie aber bei Mängeln mühsam und meist aussichtslos wieder einklagen müsste.

Die EU möge “der Gerechtigkeit dienen” und Norwegen zur Zahlung bewegen. Orbáns Vollstrecker, János Lázár am Dienstag im Parlament vor Journalisten.

Bei den der "illegalen Kreditwirtschaft" Beschuldigten (hier dazu die engl. Aussendung des Amtes des Ministerpräsidenten) handelt es sich - bestimmt zufällig - um solche Organisationen, die bereits vor Monaten und also noch weit vor staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen auf der "Schwarzen Liste problematischer NGO´s" aus dem Hause Lázár auftauchten (eine Liste finden Sie in den Updates). Um als Institution Kredite zu vergeben, braucht es aber - "in Ungarn wie in Norwegen eine Banklizenz", daher seien die Ermittlungen gerechtfertigt, auch Hausdurchsuchungen seien dabei nichts außergewöhnliches, im Übrigen wolle er sich in die "Arbeit der unabhängigen Ermittler" nicht einmischen. Lázár war es übrigens, der das Regierungskontrollamt KEHI (eine Art politisch geführtes Parallelkommissariat) auf die NGO´s ansetzte und - als dieses scheiterte - die Sache der Staatsanwaltschaft übergeben ließ.

Regierung will nur Missbrauch der Mittel für "Parteizwecke" verhindern. Wie bitte?

Es sei schon eingenartig, dass "immer die gleichen die von Ökotárs verwalteten Gelder erhalten" hätten und die Ablehnungsquote mit "70% klar über der bei EU-Ausschreibungen von 50%" läge. "Kürzlich kam heraus, dass die Stiftung Ökotár (...) direkt und indirekt Mittel für parteipolitische Zwecke benutzt hat." lautet die andere zentrale "Missbrauchs"-These der Regierung. Weiter: "Die ungarische Regierung glaubt daran, dass finanzielle Mittel zur Stärkung der Zivilgesellschaft strikt von der Finanzierung durch und von politischen Parteien zu trennen sind und das öffentliche Gelder nicht für die Finanzierung parteipolitischer Aktivitäten benutzt werden dürfen."

Noch höhnischer könnte man den Spieß nicht umdrehen. Schließlich ist es die Fidesz-Regierung, die seit vier Jahren systematisch und legislativ untersetzt "nahestehende" Organisationen an öffentliche Geldtöpfe platziert, ja einige Organisationen überhaupt erst zum Behufe der Abschöpfung gründen ließ. Ob für "familiäre Werte" eintretende frömmelnd-nationalistische "Frauenbewegungen", auf die Beobachtung der "Unterdrückung" ungarischer Minderheiten in den Trianon-Gebieten spezialiserte "Menschenrechtsgruppen" oder plötzlich vor den Toren "ausländischer Landräuber" auftauchende "Umweltschützer", ja sogar die Suppenküchen und Obdachlosenasyle dürfen nur noch von Organisationen betreut werden, die dem wahren Glauben anhängen. Von Geschichtsinstituten, die den Juden ihren Holocaust neu erklären, hier einmal ganz zu schweigen...

Fidesz hat praktisch zu jedem klassichen NGO-Feld Projekte nach seinem Bilde geschaffen und ihnen den exklusiven Platz am steuerlichen Futtertrog verschafft - die anderen verdrängt. Ohne internationale Gelder könnten die meisten gar nicht mehr arbeiten. Das berühmteste Beispiel für diesen “Umbau” ist die
regierungstreue "Friedensmarsch-Bewegung" CÖF, deren Chef - natürlich vollkommen zufällig - der Leiter der Regierungsbehörde für die staatlichen Finanzhilfen für NGO´s in Ungarn wurde. Auch hier manifestiert sich die Arroganz der Macht, die sich schon gar nicht mehr die Mühe macht, ihren Handlungen einen gerechtfertigten, gar demokratischen Anstrich zu geben. Die reine Behauptung genügt.

Regierungsunabhängig, alternativ, ökologisch, sozial - die Norweger machen alles falsch!

Dass die Norwegian Grants durch ihre Regierungsferne genau gegen diese Homogenisierung, ja Gleichschaltung, arbeiten, war Lázár und Co. stets ein Dorn im Auge und machte Oslo zu Finanziers der inneren und äußeren Feinde Ungarns. Nicht zuletzt geben die Norweger sechsjährlich rund 150 Mio. EUR in Ungarn aus, die Begehrlichkeiten wecken. U.a. für kleinteilige, die lokale Unabhängigkeit verstärkende nachhaltige Energieprojekte, Kindergärten mit alternativen Erziehungsansätzen, Förder- und Verständigungsprojekte zwischen Mehrheitsgesellschaft und Roma usw., - also alles "liberal" verseuchte Provokationen, die der Regierungsideologie zuwiderlaufen: Fidesz baut lieber das AKW aus, hat alle Schulen verstaatlicht oder verkirchlicht und Roma zählen laut Minister Balog ohnehin zu einer nichtförderungswüridgen Gruppe von Sozialschmarotzern mit zu vielen (nichtmagyarischen) Kindern.

Budapest geht es nicht um eine Kontrolle der - naturgemäß nicht immer korrekten - Abwicklung, sondern um eine Abwicklung der Zivilgesellschaft insgesamt und damit der Aufhebung jeglicher Regierungskontrolle und Selbstbestimmtheit der Bürger.

Brüssel soll ungarische Wegelagerer unterstützen

Die Akten der Hausdursuchung sind noch warm, schon startet Lázár seinen nächsten Winkelzug: Ungarn werde sich nun "womöglich" und "für den Fall, die Seiten können sich nicht einigen" an die EU-Kommission wenden, mit der Bitte "der Gerechtigkeit zu dienen" und als Vermittler zwischen Ungarn und Norwegen aufzutreten. Immerhin, so betonte der alleinige Kassenwart über die ungarischen EU-Milliarden, hätten Norwegen, aber auch Island und Liechtenstein die Fonds zur Entwicklungshilfe für die osteuropäischen Länder in Absprache mit der EU eingerichtet, als Gegenleistung für den Zugang zum gemeinsamen EU-Binnenmarkt, von dem auch Norwegen profitiert. Aber, räumt er weiter ein, "die Standpunkte sind derzeit wirklich weit auseinander", vor allem weil: "Norwegen glaubt, hier laufe alles korrekt."

Diese geradezu prototypische neuungarische "Prozessführung" und der wiederholte institutionelle Missbrauch der EU (wo man sich mit der
weitgehend bedinungslosen Überweisung der Mittel in Orbáns Vorzimmer ja Dank der EVP-Kameraderie prima durchsetzen konnte) impliziert, dass Norwegen der EU gegenüber verpflichtet sei, Ungarn die Gelder ohne Wenn und Aber zu überlassen. Tue es das nicht, stünde die Verwehrung des Zuganges zum EU-Binnenmarkt im Raum, wie haarsträubend die Aktionen in Budapest auch immer sein mögen. Es handelt sich also um ein Eintrittsgeld an den Wegelagerer Ungarn, forciert von seinem unfreiwilligen Zuhälter EU.

EU schweigt - Schweiz wartet ab

Auch hierzu steht eine Antwort der EU weiterhin aus, ebenso wie zu dem putinschen Überfall auf namhafte und - teilweise - seit Jahrzehnten anerkannt solide arbeitende Bürgerrechtsgruppen am Montag und den Brandbrief des norwegischen Ministers, der den Schutz der Grundwerte der EU einforderte - als Nichtmitglied!

 

Bei der Aktion am Montag wurden übrigens auch Dokumente der Schweiz beschlagnahmt, wie der "Tagesanzeiger" heute Morgen meldete, denn Ökotárs wickelt auch Projekte der ähnlich aufgestellten Schweizer Fonds ab, konkret rund 5 Mio. CHF für den "Swiss-Hungarian NGO Funds". Hier könnte sich bald eine neue Front auftun und Ungarn auch die insgesamt immerhin rund 100 Mio. EUR, die aus der Schweiz fließen, aufs Spiel setzen. Zwar wollen die für ihre politische Duldsamkeit bekannten Schweizer erstmal abwarten, welche Dokumente betroffen sind und was die Eingriffe für die 39 geförderten Projekte bedeuten, "dann sehen wir weiter." Doch beim Geld, das dürfte bekannt sein, verstehen die Schweizer am Ende noch viel weniger "Spass" als die Norweger.

red. / m.s.

Russische Verhältnisse: Polizei in Ungarn stürmt Büros von NGO´s, Hilferuf aus Budapest: "EU darf nicht länger zur Putinisierung Ungarns schweigen!" - MIT UPDATES, LINKS und CHRONOLOGIE. WEITERLESEN.

UPDATE: EP-Präsident Martin Schulz äußerte sich via Twitter zu den Vorgängen in Ungarn...

 

Der Pester Lloyd bittet Sie um Unterstützung.

 

 

 

 

Effizient werben im
Pester Lloyd!
Mehr.