THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 37 - 2014   POLITIK   09.09.2014

 

Russische Verhältnisse: Polizei in Ungarn stürmt Büros von NGO´s, Hilferuf aus Budapest: "EU darf nicht länger zur Putinisierung Ungarns schweigen!"

Am Montagmorgen stürmten mehrere Dutzend Polizisten den Sitz der Ökotárs Stiftung, einer jener NGO´s, die seit Monaten im Fadenkreuz der Regierung stehen und systematisch kriminalisiert werden, weil einer der Finanziers, die Norwegian Grants, sich den Anweisungen des Kanzleramtsministers Lázár zur vertragswidrigen Übertragung der Vergabe- und Kontrollrechte widersetzt.

“Vorsicht! Von Ausländern finanzierte politische Aktivisten” Ein Demonstrant weist während der Hausdurchsuchung bei Ökotárs auf den Soros-Stipendiaten Viktor Orbán 1989 hin.

UPDATE, 10.09.14, 11:52 Uhr: Lázár kündigt an, die EU zur Konfliktlösung anzurufen. Weitere Vorwürfe gegen NGO´s, auch Schweiz involviert.

UPDATE, 09.09.14, 14:45 Uhr: Folgende NGO´s - die meisten fanden sich bereits auf Lázárs "Schwarzer Liste" dürfen sich demnächst ebenfalls auf Besuch von Polizei und Staatsanwaltschaft gefasst machen, denn Dokumente über deren geförderte Porjekte wurden bei der Hausdurchsuchung bei der Ökotárs Stiftung, die u.a. im Auftrag der Norwegian Grants Projektgelder an diese weitergab, mit der Begründung beschlagnahmt, die Gelder würden "missbräuchlich verwendet": Krétakör Alapítvány (Theatergruppe), K-Monitor Közhasznú Egyesület (Antikorruptionsinitiatve), Nők a Nőkért Együtt az Erőszak Ellen Egyesület (Initiative gegen Gewalt an Frauen), Demokratikus Ifjúságért Alapítvány (Stiftung für demokratische Bildung von Jugendlichen), Transparency International Magyarország Alapítvány (ung. Büro von Transparency International), Magyar Női Érdekérvényesítő Szövetség (Gesellschaft für Frauenrechte), Társaság a Szabadságjogokért (Pressefreiheit), Asimov Alapítvány, Roma Sajtóközpont (Initiative zum Aufbau von Roma-Medien), Labrisz Leszbikus Egyesület, Patriarchátust Ellenzők Társasága, Liberális Fiatalok Egyesülete, Szivárvány Misszió Egyesület.

UPDATE, 09.09.14, 13:13 Uhr: Die Geschäftsführerin der Ökotárs Stiftung, Verá Móra, wurde am Montag von der Polizei "nicht verhaftet", wie deren Pressesprecher sagte, sondern "unter Polizeischutz nach Hause begleitet, um ihren beschlagnahmten Laptop zu holen." (Foto unten).

UPDATE, 09.09.14, 9:13 Uhr: Die NGO Ökotárs und die Vereinigung ungarischer Bürgerrechtsgruppen TASZ wollen sowohl die Ermittlungsbehörde NNI als auch das sog. Regierungskontrollamt KEHI verklagen. Es bestehe der Verdacht des Amtsmissbrauchs, der Nötigung sowie der Rechtsbeugung, da sowohl das Regierungsamt wie auch die oberste Ermittlungsbehörde keine ausreichenden Belege für die exzessiven exekutiven Maßnahmen vorweisen und diese damit rechtswidrig sein könnten.

UPDATE, 09.09.14, 8:56 Uhr: Noch am Montag starteten erste spontane Protestaktionen vor Regierungsbehörden, allerdings von kleinen Gruppen, bei denen neben Betroffenen u.a. auch der gemeinsame Bürgermeisterkandidat der Linken, Ferenc Falus auftrat. Ca. 250 Personen wurden gezählt, für Dienstagabend ist eine weitere Demo vor dem NNI-Gebäude in der Szerb utca geplant.

Eine Chronologie der Ereignisse

 

Erstbericht, 09.09., 7.30 Uhr: Die Polizisten, verstärkt durch Mitarbeiter des besonders für politisch motivierte Aktionen berüchtigten "Nationalen Ermittlungsbüros" NNI durchsuchten die Büroräume von Ökotárs, eine Stiftung die den ungarischen Grünen von der LMP als nahestehend zugeschrieben werden kann, beschlagnahmten dabei Dokumente, Festplatten und Laptops und untersagten den Mitarbeitern Telefonate während der Aktion. Anschließend fand die gleiche Aktion bei einer anderen NGO statt, der Stiftung für die Entwicklung des demokratischen Rechts - einer NGO übrigens, die auch durch den sog. "Neuen Szécheyni Plan" der Regierung unterstützt wurde.

Seit 9. Mai hat Norwegen die Auszahlung der Gelder aus dem mt Liechtenstein und Island gemeinsam betriebenen Fonds (EEA Grants, Norwegian Grants) zur Entwicklung in Osteuropa (in Summe rund 300 Mio. EUR / 6 Jahre, wobei davon nur rund 320.000 EUR an 20 NGO´s in Ungarn direkt flossen), die zum größten Teil in ökologisch, sozial und ökonomisch nachhaltige, überwiegend lokale Projekte fließen (Projektauswahl), eingefroren, nachdem die ungarische Regierung das vertraglich vereinbarte System der Vergabe und Kontrolle über gemeinsame regierungs- und vereinsseitig besetzte Kommissionen und ein unabhängiges Kontrollamt in Brüssel einseitig aufkündigte und die Hoheit über die Mittel allein übernehmen wollte - wie sie das zuvor bereits bei den EU-Geldern erfolgreich geschafft hat.

Norwegen ließ sich - im Unterschied zu Brüssel - jedoch nicht von irgendwelchen Erklärungen (Doppelstandards, Ungarn das arme Opfer, NGO´s böse und die Regierung will eh nur immer das Beste für alle) ablenken und beharrte schlicht und ergreifend auf Wiedereinsetzung des vertraglich vereinbarten Systems.

Dieses Beharren löste eine konzertierte Kampagne und in der Folge auch eine diplomatische KRise aus: die NGO´s (darunter lokale genauso wie international bekannte wie AI) wurden von Premier Orbán und seinen Parteigängern als "Agenten fremder Interessen", die "gegen die Nation" arbeiteten und als “nutzlose Betrüger” bezeichnet, die Regierung erstellte eine “Schwarze Liste” und der norwegische Botschafter wurde ins Budapester Außenamt einbestellt, das von der Regierung installierte Kontrollamt KEHI sollte die Zweckentfremdung und "illegale Verwendung" von Mitteln nachweisen, was ihm aber nicht gelang, woraufhin man die Staatsanwaltschaft anwies, tätig zu werden. Auch diese konnte bis dato keinen Nachweis erbringen, weshalb man die hanebüchene Behauptung aufstellte, ausländische Geldgeber bräuchten für derartige Spenden eine “Lizenz”, die aber nicht vorliege. Die umfangreiche Polizeiaktion am Montag entfaltete jedoch vor allem ihre mediale Wirkung und ist ein klares Zeichen, dem nun eigentlich nur noch ein klassischer Schauprozess samt Verbot folgen kann, um die Farce zu komplettieren. Eine entsprechende Klage ist bereits eingereicht.

Orbán und dessen Vollstrecker Lázár dürfte besonders die direkte Aufforderung des norwegischen Europaministers Helgesen an die EU-Kollegen provoziert haben, mit der er die Gemeinschaft zu Sanktionen aufforderte, sollte Orbán seine Ankündigungen von einem gegen die Freiheit und Demokratie gerichteten Staat umsetzen.

Bereits am Montagmittag versammelten sich Betroffene, Kollegen anderer NGO´s und natürlich auch Oppositionsvertreter, um gegen die Willkürakte der Regierung zu protestieren.

Sowohl die betroffenen NGO´s wie auch Bürgerrechtsgruppen und Oppositionsparteien protestierten scharf gegen diese eindeutig "politisch motivierte" Aktion, die "ein neues Level der illegalen Angriffe der Orbán-Regierung" darstellt. Die Vereinigung Ungarischer Bürgerrechtsgruppen TASZ fordert, dass die "EU nicht länger über die Putinisierung Ungarns schweigen darf". Die Vorwürfe auf "betrügerischen Missbrauch von Mitteln", wie sie von Staatsanwaltschaft, Polizei und KEHI gemacht, aber nicht belegt werden, "erinnern an ähnliche Angriffe auf die Zivilgesellschaft wie in Russland oder Aserbaidshan, wo autokratische Regierungen diese Methoden anwenden, um unabhängige NGO´s zu neutralisieren, die von internationalen Spendern Gelder bekommen."

 

Orbán habe in seiner Juli-Rede die Errichtung eines "illiberalen Staates" angekündigt und lässt diesen Worten nun Taten folgen. Damals vermied die EU, Orbáns Aussagen zu kommentieren. Doch Orbáns Handlungen - besonders der auf keiner rechtmäßigen Grundlage stehende Polizeinsatz vom Montag - belegen, dass die Regierung die Grundwerte der Europäischen Union missachtet und damit die Fundamente der Gemeinschaft attackiert, so TASZ. Die EU solle sich ein Vorbild am Handeln Norwegens nehmen und die Auszahlung von Mitteln an die Einhaltung der verbindlich vereinbarten Regeln, hier der Grundwerte der Gemeinschaft, koppeln!

 

Orbán gegen die Zivilgesellschaft: CHRONOLOGIE DER EREIGNISSE

9. September: Lázár kündigt an, die EU zur Konfliktlösung anzurufen. Weitere Vorwürfe gegen NGO´s, auch Schweiz involviert.

8. September 2014: Polizei stürmt und durchsucht Büros von NGO´s in Budapest

5. September: Regierung lässt NGO Ökotárs wegen "betrügerischen Missbrauchs von Mitteln und krimineller Handlungen" verklagen, kurz zuvor ruft der norwegische Europaminister die EU-Kollegen zum Handeln gegen die Errichtung eines von Orbán proklamierten “illiberalen Staates” auf

12. Juni 2014: Demo und Internationale Solidarität mit der ungarischen Zivilgesellschaft

11. Juni 2014: Norwegen beharrt auf Einhaltung der Verträge, norwegischer Botschafter einbestellt

11. Juni:
Aufbegehren gegen den Machtrausch: Demonstrationa gegen NGO-Jäger Lázár

9. Juni 2014:
Regierung erstellt schwarze Liste "problematischer NGO´s"

6. Juni 2014:
Norwegen bestellte ungarischen Botschafter ein und mahnt Verhandlungen statt Hetzkampagne an

9. Mai 2014:
Norwegen stoppt 150 Mio. EUR Entwicklungsgelder an Ungarn

23. August 2013:
Regierung bezeichnet NGO´s als Kampfgruppen von "US-Spekulanten"

Einige “Vergehen” ungarischer NGO´s:

NGO´s erstreiten vor VfG Verbot von Kriminalisierung von Obdachlosen
NGO in Ungarn klagt gegen Kumpanei von Behörden und Neonazis
Tabakhandelsskandal: Medien und NGO´s klagen gegen Korruption
NGO´s wollen unbegrenzte U-Haft vor Verfassungsgericht anfechten
Informationsfreiheit: NGO´s verlangen Einblick in behördliche Dokumente

red., m.s.

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