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(c) Pester Lloyd / 11 - 2015   GESELLSCHAFT    14.03.2015

 

Jubelkommandos zum Nationalfeiertag in Ungarn: Schulen verweigern Orbán den Gehorsam

10 Schüler pro Gymnasium, plus ein Lehrer, so lautete die Anforderung des amtlichen Organisationskomitees zum Nationalfeiertag am Sonntag. Sie sollten Orbán bei seinen Auftritten jugendlich-frische Kulisse sein. Doch die meisten Schulen verweigerten sich. Was in Demokratien eine normale, berechtigte Reaktion wäre, ist in Orbánistan heute schon ein kleiner Volksaufstand...


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Mitte der Woche machte ein Brief des Direktoriums des Imre Madách Gymnasiums in Vác bei Budapest an Premier Orbán die Runde durch die Medien. Darin hieß es, dass der "Lehrkörper des Gymnasiums die verpflichtende Teilnahme von Schülern an politisch ausgerichteten Veranstaltungen ablehnt..." und man es für "unvereinbar mit den Persönlichkeitsrechten und nicht akzeptabel hält, dass staatliche Institutionen" derartige "Anforderungen" überhaupt tätigen.

Es war nicht irgendeine Institution, sondern das Staatsfeierkommando des Verteidigungsministeriums, das über die zentrale
Schulbehörde KLIK, der rund 4.000 von den Kommunen zwangsverstaatlichte Schulen unterstellt wurden, in einem Rundschreiben an 307 Schulen, jeweils "mindestens 10 Schüler, plus ein Lehrer" als Jubelkulisse für die Orbán-Ansprache zum Nationalfeiertag am 15. März vor dem Nationalmuseum, beim Fahnehissen auf dem Kossuth Platz und beim Husare-Aufgalopp an Kettenbrücke und Heldenplatz anforderte. Am Ende sollten alle gemeinsam ein Lied singen (die berüchtigte allungarische Revisionismus-Hymne, die auch an den Schulen gepaukt werden muss).

Zur besseren Kontrolle der Normerfüllung sollten die Direktoren zudem noch eine Liste mit Namen, Adressen und Handynummern der Jubelkolonnen übermitteln und sicherstellen, dass es sich um Gymnasiasten handelt, die bereits über 18 sind, so dass es keiner Einwilligung der Eltern bedarf. Die Bezirksleiter von KLIK betonten in persönlichen Gesprächen mit den Direktoren nochmals ausdrücklich das Mindestsoll pro Schule.

 

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Als das Schreiben des Vácer Gymnasiums publik wurde, zitierte der (Fidesz-) Bürgermeister von Vác Direktor und Vize zu sich und sprach - wie überliefert, in sehr harschem Ton - von ihrer "Pflicht zur patriotischen Ausbildung", der "Blamage für den Ort" und dass das alles auch auf ihn zurückfallen könnte, immerhin brauche man das Geld aus Budapest auch für die Sanierung der Schulen etc. Er würde sie am liebsten sogleich feuern, allerdings habe er dazu keine Zuständigkeit, die "zuständigen Stellen" würden das aber sicher bald übernehmen.

Angeblich haben auch "Aktivisten" der CÖF (Bürgereinheitsfront), jener
ominösen Vereinigung der finstersten Spießgesellen aus Orbáns Umfeld, deren regierungsdienliche und hoch subventionierte Aktivitäten ("Friedensmärsche" um europäische Putschversuche  gegen Orbán "mit der Liebe des Volkes" zu unterbinden) Ungarn mental immer näher an Nordkorea schieben, auf den Fall reagiert und dem Gymnasium gedroht.

Die CÖF, eine Mischung
aus Mafia, Karnevalsverein und Küchentisch-SA, hat ja professionelle Erfahrung mit dem Herankarren von Jubelpersonal: Studenten, Rentner, Roma, Polen. Man liefert bei Bedarf alles überallhin. Allerdings klemmt es in diesem Jahr: die Jubelpolen aus der Kaczynski-Fraktion, die sonst in Sonderzügen und -bussen den ungarischen Brüdern im Geiste von EU- und Liberalen-Hass beistanden, sind stinkig, wegen der Russland-Nähe Orbáns. Sie haben abgesagt. Die Jugend will auch nicht, bei der letzten Nachwahl blieben auch die Alten weg, nun wird langsam das Personal knapp.

Der CÖF-Vorstand dementierte. Ein entsprechend unterzeichnetes Schreiben auf Facebook (Landesverrat etc.) gegen die Gymnasialleitung sei eine Fälschung, ein Schabernack der Feinde Ungarns, man weiß es nicht genau. Dennoch entfachten die einschlägigen Seiten einen nationalistischen Shitstorm gegen das Gymnasium und die dort tätigen Personen, offene Drohungen gegen Leib und Leben inklusive.

 

Bis hierhin gleicht die Geschichte einer Episode aus der Zeit z.B. der Arbeiter- und Soldatenräte oder Mitte der deutschen Dreißiger. Die Lehrer und Leitung des Madách-Gymnasiums gehen nämlich ein ähnliches Risiko ein, denn sie sind über die Schulverwaltung KLIK und sogenannte "Karrieremodelle" bereits vertraglich zum Gehorsam und zur "nationalen" Linie vergattert. Wer sich nicht an die Disziplinierung hält, riskiert Gehaltseinbußen, Sonderschulungen, Versetzungen, Entlassung. Hunderte Fälle dieser Art sind belegt, nicht wenige davon offen politisch motiviert.

Doch irgendetwas ist in den vergangenen Monaten in Ungarn geschehen, man wird wieder aufmüpfiger. Wie wir heute lesen können, verweigerten 263 der 307 vom Ministerium angesprochenen Gymnasien Orbán die Gefolgschaft und lehnten das Ansinnen ab. Die Schüler sollen selbst entscheiden, was sie in ihrer Freizeit machen und wem sie zuhören und zujubeln. Was so normal klingt, ist in Orbánistan heute schon ein kleiner Aufstand.

Die Schulbehörde KLIK behauptet, es habe "nicht die Absicht" gehabt, eine verpflichtende Teilnahme zu verlangen, im Gegenteil, "das Veranstaltungsbüro eröffnete uns die Möglichkeit, dass Schüler, die das wünschen, an einer öffentlichen Zeremonie teilnehmen dürfen." Das klingt dann schon ein wenig wie "organisierter Osterausflug" oder "Urlaub in der Ostukraine"...

red. / m.s.

 

Der offizielle Feierplan der Regierung für den 15. März: http://marcius15.kormany.hu/

Gänzlich freiwillig ist die Teilnahme an der gemeinsamen Demo der demokratischen Opposition. Sie startet 15 Uhr am Keleti Bahnhof und führt dann bis zum Astoria (erstmal).
Hier der Aufruf dazu.

Stichtag 15. März: "Runde Tische" sollen Bürgerprotesten in Ungarn Richtung und Inhalt geben
Zum Beitrag.

Hintergrund:

Der Geist der Freiheit und die Geisterjäger
Rituale, Proteste und ein bisschen Zensur: Veranstaltungen und Gedanken zum Nationalfeiertag des 15. März in Ungarn


Aus dem Pester Lloyd von 1936
György Káldor zum 15. März: "Freiheit – halb oder ganz"

 

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