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(c) Pester Lloyd / 17 - 2015     WIRTSCHAFT    23.04.2015

 

Ungarn setzt Maßstäbe für ganz Europa: Budget- und Steuerpläne für 2016

Ungarns Wirtschafts- und Finanzminister Mihály Varga gab am Mittwoch Eckpunkte der Steuerpolitik für das Jahr 2016 bekannt und erweckte dabei den Eindruck, Ungarn könne - Dank der herausragenden Wirtschaftspolitik seiner Führung - aus dem Vollen schöpfen. Das kann es auch, - wenn man die Hälfte der Bürger abschreibt. Die Message der EU und der "Märkte": Lieber ein Land in die Dikatur als in die Zahlungsunfähigkeit abgleiten lassen...

Die Flat Tax auf alle Einkommen soll ab kommendem Jahr von heute 16% auf dann 15% gesenkt werden. Das wird, so Varga, den Begünstigten umgerechnet fast 400 Mio. EUR mehr Geld bescheren, soll aber nur der erste Schritt sein hin zu einem einstelligen Steuersatz - vermutlich im Wahljahr 2018. Was er verschweigt: eine Flat tax dieser Art begünstigt Besserverdiener ungleich stärker als die einkommensschwachen Schichten, also die absoulte Mehrheit der Einkommensbezieher. Die Einkommensschere wird weiter auseinander getrieben. Vor allem das Fehlen eines unteren Freibetrages ist zutiefst unsozial.

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Entwicklung der Industrieproduktion, jeweils zum Vorjahr. Ohne Audi, Mercedes, GE & Co. sähe es finster aus...

Weiterhin sollen die Steuerfreibeträge für Familien mit zwei und mehr Kindern auf 20.000 Forint (65 EUR) pro Kind und Monat verdoppelt werden, auch das ist ein Geschenk für den gehobenen Mittelstand (in Höhe von knapp 50 Mio. EUR), denn Steuern können nur für den reduziert werden, der eine entsprechend hohe Steuerbasis hat.

Fakt bleibt, dass der Nettowert in der Spanne von den gesetzlichen Mindestlöhnen (brutto etwas über 100.000 HUF im Monat) bis zum statistischen Durchschnittslohn (rund 220.000 Forint) in den vergangenen fünf Jahren um rund 30% verloren hat, die gemeldeten Reallohnzuwächse also an den meisten spurlos vorbeigehen. Der Steuer- und Abgabenanteil der gesamten Arbeitskosten ist in Ungarn mit rund 46% immer noch um rund 8-10 Punkte über dem gesunden Maß. Die oberen 30% Einkommensbezieher freuen sich hingegen über zweistellige Zuwächse. "Leistungsträger" gegen "Untertanen", wir nennen es sozio-ökonomische Selektion.

Eigentlich wollte Orbán in seiner "Arbeitsgesellschaft" Arbeit verbilligen und Konsum verteuern, geschafft hat er - für alle - aber nur Letzteres. Die Steuergeschenke an die Oberschichten durch die Flat Tax kompensierte man
durch massive Verbrauchssteuererhöhungen, mal direkt durch Produkt- oder (Rekord)Mehrwertsteuern, mal indirekt durch Branchensondersteuern, Lebensmittelaufsichtsabgaben und viele kleine Sonder- und Zusatzsteuern auf Dies und Das, die am Ende alle beim Konsumenten anfallen. Zwei Dutzend neue oder angehobene Abgaben bilanziert die Orbán-Regierung nach fünf Jahren.

Jene, die den größten Teil ihres Einkommens für das Lebensnotwendige aufbringen müssen, sind bei diesem System die Angeschmierten. Aber deren Kennzahlen tauchen in den Erfolgsbilanzen auch nicht auf. So einfach ist das.

Nach Ziege und Schwein, soll ab kommenden Jahr auch die Mehrwertsteuer auf Putenfleisch von 27 auf 5% gesenkt werden, eigentlich für alles "unverarbeitete Fleisch", hofft Varga, um so doch noch einen sozialen Aspekt in seine Ankündigungen einzubringen. Doch sein Fraktionschef realtivierte bereits, dass man das nicht übereilen könne. Zu gut laufen offenbar noch die Mehrwertsteuerkarrussele, zumindest solange die aktuelle Finanzamtschefin von Orbán noch gedeckt werden kann.

Varga stützt sich im Budgetentwurf für 2016 auf fast traumhaft anmutende Zahlen: 2,5% BIP-Wachstum, Inflation maximal 2%, Defizit um die 2%, sogar die Bankensondersteuer kann man von bisher 0,51% der Bilanzsumme auf 0,31% senken (er erwähnt nicht, dass die Banken die Hälfte dieser Reduktion durch die
Zwangsentschädigung für Quaestor schon wieder verlieren und der Rest durch die rückwirkende Forex-Gesetzgebung draufgeht). Die sonstigen Sondersteuern bleiben unverändert hoch.

Zum Thema. Dünne Suppe, dick aufgetragen: Wachstums-, Arbeits- und Schuldenrekorde im “€Tigerstaat”€ Ungarn

Orbán hat Glück, seine Rechnung, voll auf die Qualifikation als verlängerte Werkbank zu setzen geht - noch - auf. Die gepamperten Großkonzerne erzeugen - Dank der Konjunktur in Deutschland und einer ausbleibenden größeren Flaute der Weltwirtschaft - wie die wilden. Rund 7% zum BIP steuert jährlich die EU direkt bei.

Ohne diese beiden Faktoren und ein bisschen Glück wäre Ungarns Wirtschaft heute nicht lebensfähig. Dass sie das auch unter den gegebenen Umständen nur zum Preis von
36%-40% Menschen unter der Armutsgrenze ist und es - außer Griechenland - kein Land in der EU gibt, in der die Armut schneller wächst, deckt Orbáns Wunderwirtschaft als Kartenhaus auf. Diese Armen mussten sich kürzlich nochmals mit einer Halbierung ihrer minimalen Stütze abfinden. Alles hat eben seinen Preis. Mehr in: Episoden der Armut

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Das Statistische Zentralamt ermittelte für 2014 etwas über 31.000 Auswanderer (länger als ein Jahr) aus Ungarn, stellte aber selbst klar, dass es unmöglich ist, die tatsächliche Zahl auch nur annähernd zu erfassen. Denn die meisten bleiben in der Heimat gemeldet und sozialversichert, praktischerweise so auch in der Erwerbsstatistik. Fachleute schätzen die Zahl der Auswanderer seit 2010 auf rund 650.000. Die verschämte MTI-Statistik informiert uns lediglich über die Hauptgründe: 84% wegen Arbeitssuche...

Varga konnte sich bei seiner gestrigen Präsentation auf eine aktuelle Statistik von Eurostat stützen. In allen Regionen Ungarns sei die Arbeitslosenrate in den letzten 12 Monaten schneller gesunken als in sonst irgendeinem Teil Europas. Heute liegt sie bei 7,5%. In Rumänien noch einen Prozentpunkt darunter, aber was sagt uns das bei 40% Armut? Dass man von seiner Arbeit nicht leben kann. Orbán aber hielt so sein Versprechen von 1 Mio. neuer Arbeitsplätze: 250.000 Kommunalbeschäftigte mit steuerfinanzierten 170 EUR im Monat und der Rest  echte Arbeitsplätze: allerdings in Deutschland, Großbritannien, Österreich, wie uns die Auswanderungsstatistiken belegen.

Auch "die Schulden sollen weiter gesenkt werden", heißt es vage. Doch selbst wenn die Schuldenrate z.B. um 1 Prozentpunkt im Jahr sinkt, bedeutet das bei 2,5% (wenn auch extern subventionierten) BIP-Wachstum ein Anwachsen der absoluten Schulden. Ungarn pendelt seit Jahren zwischen 78 und 83% Staatsschuldenquote und ist damit unumstrittener Schuldenkönig in der Region, 20 Prozentpunkte und mehr vor vergleichbaren Ökonomien. Die weltweite Niedrigstzinspolitik und eine "neue Berechnungsmethode" der EU wahrt derzeit das Gesicht dieser wackeligen Gleichung.

Die parlamentarische Opposition kritisiert in Reaktion auf Vargas Vortrag vor allem die verschärfte Umverteilung von Arm zu Reich scharf. Die Regierung unterbinde so Investitionen in Bildung, soziale Absicherung und das Gesundheitswesen, so die MSZP. Auch die Grünen, LMP, bemängeln, dass "die Steuersenkungen nur den Gutverdienern nutzen". Der Haushaltsplan hätte sich zuerst dem Riesenheer der "Mindestlöhner" annehmen müssen, befinden die linksliberalen Kleinparteien PM etc.

Reuters, Bloomberg, die F.A.Z. und andere Apostel des gewöhnlichen Finanzkapitalismus mit ihren "Analysten" sind sich einig, dass Ungarn "die Wende geschafft", Orbán seine "Kritiker überzeugt hat", die "Wirtschaft boomt". Belegt wird das mit den gleichen Kennziffern, mit denen Varga die Verfestigung des Untertanenstaates rechtfertigt, auch wenn die eigentlich mehr verbergen als sie aussagen. Aber Hauptsache, das Land bedient seine Gläubiger und "nach EU-Methode" hat alles seine numerische Richtigkeit.

IWF und EU stimmen den Huldigungen für Orbáns "unorthodoxe Wirtschaftspolitik" im wesentlichen, wenn auch nicht so direkt zu, nur in Nebensätzen klingen Zweifel an, ob die ganzen hübschen Zahlenwerke denn auch strukturell untermauert und nicht nur das Ergebnis von Einmaleffekten und Hau-Ruck-Aktionen sind. So genau will in Brüssel aber keiner nachfragen, zu sehr ist man mit dem Exempel statuieren in Griechenland beschäftigt, dessen Regierung es wagt, die Interessen seiner Bürger - und zwar aller - über jene der Banken zu stellen.

 

Der nicht so tief schürfende Beobachter muss den Eindruck gewinnen, dass der systematische Demokratie- und Rechtsstaatsabbau sowie die ausgeuferten Raubzüge (eine kleine Linksammlung am Ende dieses Beitrages), die systematisierte, amtlich und legislativ gestützte Korruption im Lande der legitime Preis für die vorgetäuschte Stabilität sind.

Lieber ein Land in die Diktatur als in die Zahlungsunfähgkeit abgleiten lassen. Lieber ein Exempel statuieren als das System in Frage zu stellen. Das ist die Message, die vom neoliberal-konservativen Mainstream in Europa mit Orbán als ungestümem Vorreiter verbreitet wird. Wie es dem Volk dabei geht, ist vollkommen unwichtig, so lange es irgendwie ruhig gehalten werden kann. Und auch das hat Orbán ja bekanntlich im Griff. Auch hier setzt er Maßstäbe für ganz Europa...

red. / cs.sz.
 

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