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(c) Pester Lloyd / 27 - 2015   POLITIK    29.06.2015

 

Länder mit beschränkten Möglichkeiten: Ungarn als "Gewinner" der Europäischen Flüchtlingskrise
+ Kommentar: Pyrrhos pannonicus + Chronologie

Aus dem peinlichen Spektakel um die Flüchtlingskrise, bei dem die EU ihre gemeinsame Verantwortung ein weiteres Mal negierte, geht Premier Orbán als Sieger hervor. Ungarn wird bald gar keine Flüchtlinge mehr aufnehmen. Rückschiebungen, Stacheldrahtzäune und die baldige Schließung der Flüchtlingslager sind geplant. Orbán hat sein Ziel erreicht, mit einer Mischung aus Machiavelli, Goebbels und Dschungelcamp...

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Orbán begrüßte nach dem EU-Flüchtlingsgipfel am Freitag nicht nur freudig, dass die Aufteilung von 60.000 Flüchtlingen (40.000, die schon in Griechenland und Italien sind, 20.000 weitere von außerhalb der EU) auf rein freiwilliger Basis, also ohne Quoten, beschlossen wurde, sondern auch, dass Ungarn und Bulgarien sogar aus dieser Freiwilligkeit herausgenommen wurden, um ihre "beschränkten Möglichkeiten" und ihre "besondere Lage" (arm und so) zu berücksichtigen.

 

Orbán geht nun davon aus, dass die meisten Flüchtlinge "in Griechenland und Italien sowie außerhalb der EU separiert" werden. Endlich habe die EU nicht nur das Mittelmeer, sondern auch die Balkanroute zur Kenntnis genommen, "wo eine Völkerwanderung" eingesetzt habe, "die Millionen betreffen könnte".

Ungarn werde Dublin nicht nur "nicht aussetzen", sondern nun überhaupt konsequent durchsetzen, was bedeutet, dass sein Land praktisch gar keine Flüchtlinge mehr aufnehmen müsse, da alle, die das Land betreten, über "sichere Drittstaaten" kämen.

Der "Inhalt und der Text der Vereinbarung (des EU-Gipfels) dient und schützt den bzw. die Interessen des Landes", so Orbán, der jedoch ergänzte, dass "sich die vereinbarten Formulierungen in der Endfassung auch wiederfinden."

Fidesz-Politiker kündigten bereits an, perspektivisch die Flüchtlingslager in Ungarn, in denen derzeit rund 2.500 Asylbewerber "versorgt" werden, zu schließen, denn "Jeder der zu uns kommt, hat hier nichts zu suchen und sollte zurück geschickt werden.", so Orbán in Brüssel vor Pressevertretern, der in manischer Überreizung eine Reihe unverständliche Überlegungen zu Moral, dem Einsatz des Gehirns und der "Völkerwanderung" anstellte.
Hier mehr dazu in englischer Sprache auf der Seite des Amtes des Ministerpräsidenten: Er endete mit den Worten, dass es ihm "nur um die Interessen der Ungarn" gehe.

Aus diesem Grund verteidigte er auch den Grenzbau zu Serbien, der jedoch "nicht gegen Serbien" gerichtet sei.

cs.sz.
 

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KOMMENTAR: Pyrrhos pannonicus

Der EU-Gipfel stellt für die Orbán-Regierung den vorläufigen Endpunkt einer seit den Anschlägen in Paris im Januar durchinszenierten (Hetz-)Kampagne gegen Flüchtlinge, Ausländer, Einwanderer dar, die sich nicht nur einfach populistischer Methoden, sondern offener Hetze, Diffamierung, politischer Lügen und Manipulationen bediente. Das EU-Versagen, als eine Gemeinschaft zu handeln und aufzutreten, ist Orbáns Triumph, der Triumph eines Europafeindes, ein klassischer Pyrrhos-Sieg.

 

Denn Ungarn "flüchtlingsfrei" zu machen, war dabei nur das sekundäre Ziel, Ungarn war ja stets nur Transitland, es gibt überhaupt kein "Einwanderungsproblem". Orbán hat eher ein dramatisches Auswanderungsproblem. Im Vordergrund stand also die Darstellung Orbáns als den starken Führer, der - im Unterschied zum liberal verirrten, demokratisch blockierten und gespaltenen Europa - in der Lage ist anzupacken und die "Interessen des Volkes" zu schützen.

Genfer Flüchtlinskkonvention? EU-Asylregeln? Menschenrechte von Kriegsflüchtlingen? Christliche Nächstenliebe? Alles interpretierbar, instrumentalisierbar. Für Orbán gibt es keine politischen Flüchtlinge, nur eine kulturelle und biologische Bedrohung seines Volkes. Das ist die europäische Zivilistaion des 21. Jahrhunderts?

Diese Message, Orbáns Politcredo, das die Überlegenheit autokratischer Systeme hinsichtlicher ihrer "Effizienz" nicht nur lobt, sondern immer mehr zur ungarischen Praxis adaptiert, ist dennoch nur teilweise angekommen. Mag Premier Orbán nun auch (s)einen Sieg feiern, - in der Sache ist es erst Halbzeit, sowohl was die Flüchtlingsfrage betrifft, als auch hinsichtlich der geünschten dauerhaften Festigung seiner Machtposition in, besser: über Ungarn.

Denn die Beliebtheitswerte der Regierungspartei Fidesz waren in den Monaten zuvor gefährlich zu Gunsten der rechtsextremen Jobbik geschrumpft. Nur bei regierungsnahen Umfrageinstituten erholen sie sich bisher etwas. Sozialabbau, verbunden mit einem kleptokratische Beutezug parteinaher Günstlinge und deren überheblicher Attitüde nahmen selbst für die so duldsamen Magyaren dann doch überhand, Fidesz verlor ein Drittel seiner Wähler...

Das Kalkül, den demoskopischen Vormarsch der auf einen bürgerlichen Kuschelkurs einschwenkenden Neonazipartei Jobbik durch die "Politik der starken Hand" zu stoppen, ging bisher nicht so auf wie geplant, eher sieht die (kleiner werdende) politisch aktive Mehrheit des Wahlvolkes Jobbik nach wie vor als die konsequentere Fortsetzung des Fidesz. Und die Mehrheit ist xenophob bis rassistisch.

Orbáns Schlussfolgerung daraus wird nur eine weitere Eskalation seiner gegen Schwächere im In- und Ausland gerichteten Politik sein, ein Teufelskreis, dem er sich als Macht-Junkie und moralisch schwerst beschränkter "Plebejer" (Orbán über Orbán) nicht entziehen kann und will. Das wird früher oder später schreckliche Konsequenzen für die Betroffenen und das ganze Land haben. Die EU trägt daran einen immer größeren Anteil.

ms.
 

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CHRONOLOGIE

Die Chronologie der aktuellen Flüchtlingspolitik in Ungarn ist ein Lehrbeispiel der Kampagnenpolitik. Zunächst wird das Thema vorbereitet, propagandistisch und emotional unterfüttert, die eigentliche Zielstellung bleibt im Hintergrund. Dann folgt die Eskalation, die Zuspitzung, schließlich die Ausführung, gefolgt vom Einkassieren der politischen Prämie. Das Drehbuch verrät eine Mischung aus Machiavelli, Goebbels und Dschungelcamp. Diese Chronologie belegt außerdem die Behäbigkeit der europäischen Institutionen, ihre völlige Unfähigkeit auf Absehbares adäquat zu reagieren. Es soll bitte dann nur Niemand wieder sagen, er habe es nicht gewusst...

_________________________________ 2015

29. Juni:
Länder mit beschränkten Möglichkeiten: Ungarn als "Gewinner" der Europäischen Flüchtlingskrise + Kommentar: Pyrrhos pannonicus

26. Juni:
Vor dem EU-Flüchtlingsgipfel - Orbán warnt Europa vor Mitgefühl gegenüber Flüchtlingen und will kassieren

25. Juni:
Schiebung, Abschiebung, Weiterschiebung: Ungarn deutet Dublin-III um und bastelt am neuen Zaun 

24. Juni:
Außenminister kündigt weitere Grenzzäune an, Dublin-III-Suspendierung nur "technisch"

24. Juni:
Völkerrechtsbruch: Ungarn suspendiert Dublin III und ignoriert Genfer Flüchtlingskonvention. Was kommt als Nächstes: Deportationen?

21. Juni: Verbrechen Flucht:
Frankreichs Präsident Hollande unterstützt Orbáns Hetzkampagne gegen Flüchtlinge

19. Juni:
Brett vorm Kopf: Das 100 Millionen-Euro-Alibi. Ungarn isoliert sich mit "Eisernem Vorhang" selbst

17. Juni:
"Selbstschutz" - Ungarn macht Grenze nach Serbien mit Eisernem Vorhang dicht

12. Juni:
Flüchtlinge "entfernen": Ohne Orbán würde Ungarn überschwemmt...

9. Juni:
Der "Eiserne Vorhang" kehrt zurück: Ungarn schafft Aslyverfahren ab, neues Grenzregime macht Flüchtlinge zu "Eindringlingen"

9. Juni: 
Europarat prangert Ungarn an: Unwürdiger Umgang mit und Hetze gegen Roma und Flüchtlinge

7. Juni:
Ungarn macht die Grenzen dicht: Militär und Zäune sollen Flüchtlinge abhalten

7. Juni:
Verhaftungen in Ungarn: Polizei muss Anti-Flüchtlingsplakate der Regierung schützen  / Gegenkampagne

5. Juni:
Orbán: "Kein Flüchtling ist in seiner Heimat in Gefahr..."

3. Juni:
"Kein Zurück": Orbán verschärft Hetzkampagne gegen Flüchtlinge 


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15. Mai:
Keiner kommt rein: Ungarn bekräftigt Ablehnung von EU-Flüchtlingsquote

6. Mai:
Xenophobie-Rekord: Jeder Zweite will ein ausländer- und zigeunerfreies Ungarn

27. April:
Big Brother is asking You: Fragebogen zur Flüchtlingspolitik in Ungarn
 
24. April:
Flüchtlinge ins Arbeitslager: Orbáns Ungarn will den "christlichen Kontinent" schützen

23. Februar:
Repressive Flüchtlingspolitik: Ungarn will Asylbewerber in Arbeitslagern internieren

13. Februar:
Armut, Verzweiflung und Angst: UNHCR zu Flüchtlingswelle aus dem Kosovo nach Ungarn

11. Februar:
Regierung: Alle Asylbewerber verhaften, Opposition: lieber Auswanderung aus Ungarn stoppen

9. Februar:
Abschiebung ohne Asylverfahren: Ungarn will Flüchtlinge entgegen EU-Recht sofort zurückschicken

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26. Januar:
Flüchtlingshetze und Putin-Besuch: Juncker bestellte Orbán zum Rapport nach Brüssel

26. Januar: Flüchtlingspolitik:
Ungarn will Flüchtlinge mit "islamischer Identität" möglichst sofort wieder abschieben

21. Januar:
"Willkürliche Inhaftierung": Deutsches Gericht verhindert wieder Auslieferung nach Ungarn

15. Januar:
Ungarns "Einwanderungsproblem": 42.000 Asylanträge, doch nur 500 wollten bleiben

13. Januar:
Orbán ist nicht Charlie...: Reaktionen auf Einwanderer-Hetze des ungarischen Premiers

12. Januar:
Exempel der Schäbigkeit: Premier von Ungarn hetzt in Paris gegen Einwanderer 

9. Januar:
"Unser Land vor Einwanderern schützen": Orbán macht völkische Politik auf dem Rücken der Mordopfer von Paris 

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Frühere Berichte:

Oktober 2013: Neues Gesetz macht Asylbewerber in Ungarn nach 2 Monaten zu Obdachlosen
http://www.pesterlloyd.net/html/1344migrantengesetzneu.html

Lebenslang im “Integrationscontainer”: Oberste Richter in Ungarn beugen sich UN-Druck zu Dauerhaft von Flüchtlingen
http://www.pesterlloyd.net/html/1342dauerhafasylanten.html

Mai 2012: Straftat Asyl - Ungarn behandelt Flüchtlinge wie gemeine Verbrecher
http://www.pesterlloyd.net/html/1219unhcrungarn.html

Februar 2012: Zwischenlager Ungarn - Weggesperrt: Über die Situation von Asylbewerbern
http://www.pesterlloyd.net/2012_07/07asylpolitik/07asylpolitik.html

red.

 


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