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(c) Pester Lloyd / 18 - 2013   GESELLSCHAFT 04.05.2013

 

Schaukelpolitik 2.0

Jüdischer Weltkongress in Budapest: Wie antisemitisch ist Ungarn?

Der von Sonntag bis Dienstag in Budapest tagende Jüdische Weltgongress wurde am Samstag mit einem  "Gedenken für die Opfer von Bolschewismus und Zionismus - Gerechtigkeit für Ungarn!", von der neonazistischen Partei Jobbik "begrüßt", die Premier Orbán damit ordentlich blamierten. Am Sonntag wird die Grußadresse Orbáns auf der Generalversammlung der Juden in der Diaspora erwartet, eine Rede, die einem Spagat gleichkommt: Political Correctness stößt auf machtpolitisches Kalkül. Während erstere jedoch nur für drei Tage halten muss, soll letztere die Wahlen gewinnen...

Nazidemo zum Auftakt des Jüdischen Weltkongresses in Ungarn

Am Samstagvormittag kamen rund 300 (die Veranstalter sprechen von über 800), zum Teil uniformierte Neonazis in der Nähe des Parlamentes zusammen (Foto: MTI), ein großes Polizeiaufgebot umgab die Veranstaltung. Redner, darunter auch Parlamentsabgeordnete und ein Pfarrer der Reformierten Kirche, begrüßten die "Spitzel von CIA, FBI und Mossad" und stellten mit dem Zitat eines ultrarechten Rabbis klar, dass Antizionismus und Antisemitismus nicht gleich zu stellen seien, man sich aber gegen die Okkupationspolitik Israels stellen werde, die auch Ungarn bedrohe. Jobbik-Chef Vona baute von der Synagoge in der Dohány utca (Tabakstraße) eine gedankliche Brücke zum aktuellen Tabakhandelsskandal, um zu belegen, dass die korrupte, geldgierige und gegen das Volk gerichtete Politik genauso ein Kennzeichen der Juden wie der Orbán-Regierung sei, die praktisch alle nur an sich denken, während sie, die Jobbik, die einzige Kraft in Ungarn darstellt, die eben auch die Ungarn, die echten, vertritt.

Orbán spielt sich als oberster Polizist des Landes auf und wundert sich, dass er Naziaufmärsche nicht verbieten kann...

14. Jüdischer Weltkongress vom 5. bis 7. Mai in Budapest

Ministerpräsident Orbán wird seine Rede bei der Eröffnung am Sonntag halten, bei der auch der israelische Minister für Energie und Wasserwirtschaft, Silvan Shalom, sprechen wird, ebenso der Vorsitzende der Vereinigung der jüdischen Gemeinden in Ungarn, MAZSIHISZ, Péter Feldmajer.

Am Montag wird u.a. der deutsche Außenminister Guido Westerwelle an einer Debatte über die aktuelle Lage im Mittleren Osten, die Isreael-Palästina-Problematik, teilnehmen. Die rund 500 Delegierten werden einen neuen Vorstand wählen.

Der Dienstag ist für Diskussionen über rechtsradikale Ideologien reserviert, der WJC will außerdem Planungen für die Jahre bis 2017 vornehmen. Zum Thema Religionsfreiheit wird eine Rede des römisch-katholischen Kardinals Péter Erdö erwartet, der auch Präsident der Europäischen Bischofskonferenz ist. Die Abschlussrede wird Ronald S. Lauder (Foto), Präsident des WJC, halten.

http://www.worldjewishcongress.org/

Live-Stream der Plenarsitzungen ab Sonntag, 18 Uhr. http://www.worldjewishcongress.org/events/watch -live

Eine Gedenkminute "für alle Opfer des Zweiten Weltkrieges" sollte der Veranstaltung einen "würdigen Rahmen" geben. Mit dieser zynischen Geste führte man gezielt Premier Viktor Orbán vor, der im Vorfeld "alle Demonstrationen, die die Würde der Teilnehmer der Jüdischen Weltkongresses verletzen" könnten, per Anweisung an das Innenministerium verbieten ließen. Wie schon bei einer Kundgebung zuvor, verbot die Polizei daraufhin den Aufmarsch, ein Gericht kippte dieses Verbot und ließ die Demo, auf Grundlage der bestehenden Gesetze, zu.

Orbán hat sich, nach dem gleichen Vorgang anlässlich des "Marsch der Lebenden" damit ein weiteres Mal blamiert. Es wurde deutlich, dass der Ministerpräsident sein Amt missbraucht, wenn er glaubt, er könne das Demonstrationsrecht selbst interpretieren und Exekutive und Judikative einfach Anweisungen erteilen. Gleichzeitig wird demonstriert, dass Ungarn, entgegen den legislativen Bemühungen und Behauptungen der Regierung, über kein wirksames Gesetz gegen Verhetzung und Hassrede im öffentlichen Raum verfügt, Gerichte könnten sonst nicht so urteilen.

Und nicht wenige werfen schon die Frage auf, wird der Regierungschef, z.B. im Wahlkampf, auch andere Demos per Zuruf verbieten lassen wollen, weil sie jemandes "Würde" verletzen könnten? Orbán rief nach dem Richterspruch das Oberste Gericht mit der Frage an, welche rechtlichen Möglichkeiten man denn habe, die Verfassung durchzusetzen. Schließlich ist dort die Herabwürdigung der Opfer von Terrorherrschaften untersagt. Ja, sagt das Gericht, doch die ausführenden Gesetze sagen auch, "nur dann", wenn ein unmittelbarer Aufruhr zu fürchten steht. Diese Formulierung stammte übrigens von der Regierungspartei Orbáns...

Fidesz sieht in Jobbik ein Ventil und kalkuliert mit dem Anhang

Der Grund für dieses Durcheinander liegt weniger in der uneingeschränkten Gewährung der Versammlungsfreiheit in einem Land, das mit Verboten über Jahrzehnte so seine Erfahrungen gemacht hat, sondern vor allem darin, dass Jobbik, der breite rechte Rand der Gesellschaft, eine Funktion im Machtkalkül der Regierungspartei erfüllt und Fidesz fürchtet, dass ein zu harsches Auftreten gegen die Ultrarechten ganze Scharen von Wählern in die Hände Jobbiks treiben könnte. Es gibt genügend Richter, die das Spiel "böser Bulle, gute Bulle" dienstfertig mitspielen. Bei anderen Gelegenheiten war ersichtlich, dass die als noch vorhanden gerühmte Unabhängigkeit der Justiz eine Chimäre ist und eher zufällig denn strukturiert auftritt.

Dieser Denkansatz, das - durch jahrelange Polarisieren - herbeigerufene rechtsradikale Sentiment durch Entgegenkommen in politischen (Law-and-Order)-Fragen, auch in der völkisch-revisionistischen Rhetorik, durch Zugeständnisse bei Posten und eine teilweise Preisgabe des öffentlichen Raumes (uniformierte Nazibanden, die sich selbst als "Garden" bezeichnen, marschieren, obwohl seit 2009 verboten, weiter durch Romasiedlungen, erst vor wenigen Wochen wieder in Györ.) zu ventilisieren und zu kanalisieren, fordert nun seinen Tribut, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da die Augen der Welt wegen des Jüdischen Weltkongresses auf Budapest gerichtet sind, der nicht, wie von der Regierung gern dargestellt, wegen des reichhaltigen jüdischen Lebens hier tagt, sondern aus Sorge um die wachsende Bedrohung selbigens.

Orbán will "Angriffe gegen Ungarn" abwehren, die es gar nicht gibt

Orbán, dem Kurskorrekturen schon aus charakterlichen Gründen, aber auch aus machtpolitischen Erwägungen nicht in den Sinn kommen, wird, ja muss diese Schaukelpolitik auch auf seiner Eröffnungsansprache während des Kongresses fortsetzen. Seine rechte Hand, Staatssekretär Lázár machte bereits klar, dass der Inhalt der Rede am Sonntag sowohl die "vorbildliche" Kooperation der Regierung, ja der ganzen Gesellschaft mit den jüdischen Gemeinden im Lande thematisieren wird, ein kämpferisches Statement gegen "jede Art" von Antsemitismus und Rassismus beinhalten wird, aber auch "Ungarn gegen Vorwürfe aus dem Ausland in Schutz nehmen wird, die Regierung, ja das ganze Land sei antisemitisch".

Das behauptet zwar niemand, aber das passt zur gängigen Verteidigungspraxis der Fidesz-Regierung, Kritik an Zuständen, Maßnahmen, Politik und an einzelnen Personen als "Angriff auf Ungarn", also "die ganze Nation", motiviert durch "multinationale Konzerne", den "internationalen Finanzmarkt", ein Ausdruck der beim entsprechenden Publikum als "Finanzjudentum" gehört wird, dem "linksliberalen, grünen und kommunistischen Mainstream" in Europa, diesem "neuen Moskau", zu diffamieren, in eine (a)historische Linie mit Fremdschuldthesen und Opfermythen zu stellen und sie so für die Mobilisierung der auf Trotz programmierten Wählerklientel nutzbar zu machen. Diese Radikalisierung öffent der noch primitiveren Sprache der Jobbik die Tür.

Antisemitismus wird auch in der Regierungspartei gelebt und geduldet

Orbán kann in seiner Rede nur lügen (und er wird es), wenn er behauptet, seine Partei stehe dem Antisemitismus fern. Immerhin zwei sehr exponierte Vertreter des Fidesz, Parlamentspräsident László Kövér und der wichtigste Massenmobilisator der "Friedensmärsche", Zsolt Bayer, bilden die Spitze eines Eisberges, dessen Ausmaße nur zu erahnen sind. Während Ersterer keinerlei Skurpel dabei verspürte einen früheren Vertreter der faschistischen Pfeilkreuzlerpartei, den Blut-und-Boden Schriftsteller Nyirö, im rumänischen Siebenbürgen (Foto oben) bei einer pathetischen Umbettungszeremonie als "vorbildhaft" zu feiern http://www.pesterlloyd.net/html/1226kovernongrata.html, sind Bayers publizistische Hasstiraden im Stürmer-Duktus regelmäßig von Antisemitismus, aber auch Rassismus, ja sogar kaum noch indirekten Mordaufrufen durchtränkt. Orbán schwieg dazu und zeigt sich weiter öffentlich mit seinem Freund (Foto rechts), ja ließ ihn sogar als Anreger einer notwendigen Diskussion adeln. http://www.pesterlloyd.net/html/1303absolutionbayer.html

Vom Paulus zum Saulus? Ein Gottesmann steigt mit dem Teufel ins Bett

Sind das alles Ausnahmen? Superminister Zoltán Balog, ein evangelischer Pfarrer und als Regierungsbeauftragter für die Romaintegration europaweit bekannt geworden, repräsentiert die Misere, in die sich die Regierungspartei mit ihrer Taktiererei, ihrem fischen am rechten Rand manövriert hat. Nicht nur, dass er sich ganz auf Regierungslinie trimmen ließ und ohne rot zu werden behauptet, in Ungarn gäbe es keinerlei Diskriminierung von Minderheiten, schon gar keine Zwangsarbeit
http://www.pesterlloyd.net/2012_05/05baloghinterview/05baloghinterview.html , tappte er mit der Auszeichnung des rechtsradikalen Verschwörungspropagandisten Staniszló zum "Journalisten des Jahres" (siehe Foto) auch noch in ein heftiges Fettnäpfchen. Die Geschichte ging am Ende so aus, dass Balog die Sache als bürokratischen Unfall darstellte, doch zwei andere Rechtsradikale blieben "ausgezeichnet". http://www.pesterlloyd.net/html/1312balogszaniszlo.html

Balog finanziert und unterstützt mit seinem Ministerium für Humanressourcen aber auch die Kunstakademie, die von jenem György Fekete als inofizielles Kulturministerium geführt wird, der u.a. György Konrád als einen bezeichnet hat, der "vom Ausland für einen Ungarn gehalten wird". Fekete wiederholte diese  antisemitische Anspielung nochmals im Beisein von Balog auf einer Pressekonferenz, wo jener der "nationalen Aufgabe" der neuen Zensur- und Gleichschaltungsinstitution der großen Museen seine "volle Unterstützung" zusagte.
http://www.pesterlloyd.net/html/1251mma3skandale.html

Es ist auch dieser Minister der einen nationalen Rahmenlehrplan zulässt, in dem völkisch-nationalistische und antisemitische Schriftsteller als Lehrstoff empfohlen werden. Wie soll man diesem Minister und Gottesmann seine früher und auch sonst demonstrierte humanistische Haltung noch abnehmen, wenn er "für die Sache" einer "nationalen Revolution" bereit ist, mit dem Teufel ins Bett zu steigen?

Der Premier im Gespräch mit Vertretern der ungarischen jüdischen Gemeinden

Kampf gegen den Antisemistismus mit offener Geschichtsfälschung?

Orbán dürfte auch schwerlich erklären wollen und können, warum Fidesz-Bezirkspolitiker zur Einweihung von Trianon-, Horthy- oder ähnlichen Denkmälern rechtsradkiale Gardisten nicht nur dulden sondern sogar einladen. Viel eher wird Orbán am Sonntag von einem reichhaltigen jüdischen Leben, gestützt durch den gesetzlichen Rahmen seiner Partei und die Förderungen aus der Staatskasse, berichten. Antisemitische Beschimpfungen auf offener Straße, "Drecksjude" im Stammwortschatz des Mobs, gebrochene Nasenbeine bei Überfällen von Fußball"fans" auf jüdische Bürger, das alles sind natürlich Erscheinungen, die in kaum einem europäischen Land fehlen. Und diesen Umstand wird Orbán, der durchaus über rhetorisches Geschick verfügt, entsprechend betonen, um jeden Verdacht, es könnte sich in seinem Land um ein strukturelles Problem und kein Randphänomen handeln, von sich zu weisen.

Dabei ist man sich bei der Regierungspartei noch nicht einmal über die Bewertung der Rolle des eigenen Staates und Landes beim Holocaust an einer halben Million ungarischen Bürgern, jenen mit jüdischen Wurzeln, einig. Während ein aufgeklärter Teil die Mitschuld Ungarns als Staat und Nation an diesem größten Verbrechen erkennt und die Beteiligung von Behörden, Personen, Unternehmen, Parteien und Teilen der Bevölkerung eingesteht, verklausuliert der öffentliche Neusprech den Massenmord mit "Schande, dass Ungarn ihn nicht hat verhindern können...", was nichts weiter ist als eine dreiste Geschichtsfälschung.

Doch diese ist von "ganz oben" gedeckt: Orbán selbst sieht in Horthy, unter dessen Herrschaft es bereits auch Judengesetze, Massaker in besetzten Gebieten, Verfolgung und Deportationen von Juden und Andersdenkenden (u.a. an den Ostwall) gegeben hat, unter dem ungarische Armeen bereits 1942 an der Seite Hitlers in der Sowjetunion kämpften, "keinesfalls einen Diktator" und den Zweiten Weltkrieg lediglich als einen "Bürgerkrieg unter christlichen Nationen." Er legt Wert auf die Tatsache, dass "die Nazis aus Deutschland kamen", denn die Ungarn seien für solcherart Extremismus nicht geschaffen. Diese Argumente bedingen, führt man sie logisch fort, dass der Massenmord an den Juden, ihre systematische Vernichtung, nur ein bedauerlicher Kollateralschaden, ein Unfall der Geschichte war, genauso wie Jobbik und die anderen rechtsextremen Erscheinungen in Ungarn. Den ungarischen Sonderweg reklamierte auch Horthy schon für sich, seine Schaukelpolitik führte das Land letztlich auf den größten Irrweg der Menschheitsgeschichte.

Gedenken an einem der Mahnmale für die Opfer des Holocaust in Budapest, an einem Tatort.

23 Jahre Unfähigkeit demonstriert, den Menschen die Existenz zu sichern

 

Doch die deutschen Nazis damals wie die heute in Ungarn sind keine Unfälle, sie sind, was sie in allen anderen Ländern auch sind: Verbrecherische Folger verfehlter Politik. Ihre Ideologie kann nur gedeihen, wenn Demokraten versagen oder abwesend sind, wenn den Menschen das Nötigste zum Leben fehlt, weil es ihnen genommen wird, ihnen die Perspektiven vorenthalten, gestohlen werden und sie stattdessen Parolen aufgetischt bekommen, Feindbilder geschaffen und Stellvertreterkriege geführt werden. All das ist in Ungarn der Fall. Die ungarische Politik hat ihrem Volk - geht es um das Existentielle - seit Jahren Unfähigkeit und Böswilligkeit demonstriert und so auch die Geister herbeigerufen, die man nun nicht mehr los wird, auch, weil die heutige Regierung glaubt, sie zu brauchen.

Daher sind die Bekenntnisse des Viktor Orbán, die er dem Jüdischen Weltkongress übermittelt hat und wieder übermitteln wird, nichts wert, solange er seine Politik nicht eindeutig und unmissverständlich ändert und seine Schaukelpolitik beendet.

red. / m.s.

Zum Thema:

Erinnerung im Zwielicht
Holocaust-Gedenktag in Ungarn zwischen Scham, Revisionismus und neuem Antisemitismus
http://www.pesterlloyd.net/html/1316holocaustgedenken.html

Wieder antisemitische Attacke in Ungarn, Orbán verbietet Demos zum Jüdischen Weltkongress und will Ungarns Ruf verteidigen
http://www.pesterlloyd.net/html/1318attackewallenbergkongress.html

Lebendige Gespenster
Präsident auf "Reparaturreise" in Israel - Ungarn und “sein” Antisemitismus
http://www.pesterlloyd.net/html/1229csatvaryisrael.html

Mediale Frühjahrsoffensive
Offener Brief: Regierungsfreunde in Ungarn haben Angst vor "militärischer Intervention"
http://www.pesterlloyd.net/html/13163offenerbriefbekemenet.html

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