THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 38 - 2014 NACHRICHTEN 15.09.2014

 

Die Orbánjugend triumphiert: Warum Marx aus der Wirtschaftsuni Budapest verbannt wurde

Geschichte “bewältigen”, in dem man ihre Spuren tilgt und eigene Duftmarken setzt. Autokraten machen das so. Dabei bewegen die Orbán-Regierung die gleichen Motive, Marx abzubauen, wie sie die Stalinisten hatten, als sie ihn aufbauten. Es ist eine Message an das Volk: es möge alle Hoffnung fahren lassen, sein Schicksal jemals selbst zu bestimmen...

Landesweit wurden neue Statuen des Hitlerpaktierers Horthy - der, laut Orbán, “sicher kein Dikator war", Trianon-Schreine und Denkmäler für beängstigende Gestalten des rechten Randes eingeweiht. Auf dem Freiheitsplatz hat sich Ungarns Regierung mit ihrem amtlichen Besatzungsdenkmal zum Gespött der halben Welt gemacht.

Marx als Urheber des Holocaust`?

Nach der Demontage des "Armendichters" Attila József sowie des ersten Präsidenten der 1. Republik, Graf Károlyi, vom Platz vor dem Parlament, ausgerechnet um diesen "in den Zustand von 1944" zu versetzen, schrieben im Januar ein Fidesz-Staatssekretär und ein paar hysterische Aktivisten der KDNP-FDJ "ISZK" (KDNP = Juniorpartner des Fidesz) einen Brief an den Rektor der Budapester Corvinus Wirtschaftsuniversität (bis 1989 "Karl Marx Universität"), er möge doch Marxens das Foyer dominierende Statue umgehend entfernen.

Es sei wegen der Zeichen der neuen Zeit, der Überwindung der Vergangenheit, weil Marx der Urvater des Kommunismus und seiner Verbrechen und er außerdem ein Antisemit war. Staatssekretär Rétvári ergänzte noch beflissen, dass, bei Lichte, Marx eigentlich für die Genozide des 20. Jahrhunderts verantwortlich ist. Denn ohne ihn keine Bolschewisten, ohne die kein Hitler (der ja nur deren Bekämpfung im Sinn hatte!), ergo: ohne Marx kein Holocaust. Darauf muss man erstmal kommen!

Der Rektor
verwahrte sich zunächst öffentlich dagegen und erklärte, dass man durchaus über Marx und die Folgen streiten soll, es aber nicht gerade ein Zeichen von Vergangenheitsbewältigung - weder für das Land, noch für die Uni - ist, wenn man die Spuren selbiger einfach zu tilgen sucht. Neben dem 1. Marxisten war der Deutsche - wir interpretieren hier des Rektors Worte etwas freier - nämlich auch ein Philosoph und Ökonom, dessen Bedeutung - gerade bei der Analyse des gemeinen und spezifischen Kapitalismus´ weltweit gefragt ist und auch in Ländern, die von jeher kommunistischer Anwandlungen unverdächtig waren, durchaus in Ehren, weil schlicht für einen genialen Fachmann gehalten wird.

Interessanterweise verschonte sogar die wegen der vielen vakanten Fördermittel besonders beflissene
Zensurkommission der Akademie der Wissenschaften, die - im gesetzlichen Auftrag - einen Index über die Namensverwendung im öffentlichen Raum erstellte und sortierte Marx unter "universell anerkannt" in der sinngemäßen Rubrik "Schön ist es nicht, aber es wird erstmal nicht verboten." ein.

Blind in die Zukunft schreiten...

Wer die ungarischen Zustände kennt, kann sich denken, dass die dialektische Antwort des Rektors für die simpel gestrickten Inhaber der neuen historischen Wahrheiten nicht nur unbefriedigend sein musste, sondern es an ein Wunder grenzt, dass der Rektor noch seinen Posten hat. Der Druck wuchs nun hinter den Kulissen, für eine Ausstellung im Foyer der Uni wurde Marx bereits einmal evakuiert, später wegen Renovierung abgehängt, man wolle "einen neuen, angemessenen Platz für ihn auf dem Uni-Gelände finden", ihn aber "keinesfalls verbannen." und sich schon gar nicht "einer politischen Kraft oder äußerem Druck beugen". Das war der Stand von August.

Jetzt haben wir September. Am Montagmorgen entfernte eine Spezialfirma, begleitet von einigen unserer “Orbánjungen” den Bronze-Koloss mit unbekanntem Ziel, womöglich wird sich Marx im Memento-Park am Stadtrand bald bei seinen verkommenen "Söhnen", Lenin, Stalin, Kádár wiederfinden.

Der Rektor schweigt wie ihm geheißen, die Orbánjugend triumphiert: In einer Aussendung heißt es, dass man "nun auch symbolisch die Reste der postkommunistischen Ära entfernt" habe und "sich die Jugend von heute, endlich, 25 Jahre nach dem Regime-Wechsel, um die Gegenwart und Zukunft kümmern können." Geschichtsbefreit, quasi im Blindflug also.

Kusch und bete, Volk, lass alle Hoffnung fahren...!

Nun gut, ein Marx mehr oder weniger, - das klingt nicht wie eine große Sache, der Alte wird das in jedem Fall verkraften. - Doch im Kontext von Orbáns "neuem Ungarn" mit seiner Staatswirtschaft, seiner dreisten Nomenklatura, dem Alles durchdringenden Kontrollwahn, der Entmündigung der Bürger und nicht zuletzt auch mit seinem Umgang mit Geschichte, das sehr viele Menschen an nichts weniger erinnert als genau an die Zeit, die von der Fidelitas-Kampfgruppe getilgt werden will, bekommt die Aktion schon eine aufklärerische Bedeutung.

Bedenkt man nämlich, dass Marxens Lehre neben all dem, was man ihr vorwerfen mag, eben auch eine unbändige Kraft aus der Hoffnung der unterdrückten Massen entzündete, die sich nicht mehr mit ihrem ihnen zugeteilten Schicksal abfinden wollten, es in die eigenen Hände zu nehmen versuchten - auch wenn diese Versuche bisher jämmerlich bis kriminell scheiterten, beinhaltet seine symbolische Tilgung eine klare Message: Kusch und bete, Volk, lass alle Hoffnung fahren...! Die Stalinisten bauten solche Statuen auf, die Rechte baut sie ab - der Zweck war und ist aber immer derselbe...

Für diese Klarstellung sei der Orbánjugend gedankt, die nun ihren Sieg feiern kann, um dann bald wieder an die nur wegen formaler Versäumnisse noch namenslose ("Viktor Orbán")-Universität für den öffentlichen Dienst" zurückzukehren, um ihre Zukunfts- und Wahrheitsstudien fortzusetzen und darüber nachzudenken, welche historische Kapazität den frei gewordenen Stellplatz in der Corvinus-Lobby nun füllen könnte...

a.l.

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