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(c) Pester Lloyd / 42 - 2014 GESELLSCHAFT 16.10.2014

 

Die große Flucht: Deprimierende Zahlen und Hintergründe zur Auswanderung aus Ungarn

350.000 Menschen verließen von Mitte 2010 bis Anfang 2013 Ungarn. Die anhaltende Auswanderungswelle aus Orbáns Reich ist eine Abstimmung mit den Füßen, nicht so vordergründig wie die Wahlerfolge der Regierungspartei, dafür nachhaltiger und giftiger. Es sind die Jungen und unter ihnen die gut Ausgebildeten, die gehen  - und immer öfter nicht zurückkehren wollen. Der Schaden für Ökonomie, Gesellschaft und die Zukunft des Landes ist enorm. Aber Orbán redet sich die Welt schön.

Erschreckende Zahlen über die Auswanderung aus acht Staaten Ost- und Südosteuropas wurden durch das EU-Projekt SEEMIG bei einer Pressekonferenz in Budapest sichtbar. Die Projektpartner, darunter offiziele Statistikämter und akademische Forschungsruppen von Belgrad bis Wien erläuterten dabei nicht nur die zahlenmäßigen Entwicklungen zur Arbeits- und Armutsmigration, sondern auch die verheerenden ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen für die Herkunftsländer.

Natürlich interessierten sich die Medienkollegen am Mittwoch in Budapest vor allem für die ungarischen Belange. Das Land sticht sowohl durch Dynamik wie Heftigkeit heraus, denn neben den für alle gültigen Faktoren, also: Arbeitsplätzemangel, niedrige Einkommen, Wirtschaftskrise 2008/09 und Liberalisierung der westlichen Arbeitsmärkte, sorgt hier die heimische Politik seit der Machtübernahme Orbáns zusätzlich für eine überproportional dramatische Bewegung. Es war faszinierend, zu beobachten, wie sich der Vertreter des Statistischen Zentralamtes in Budapest, KSH, um solche Ursachen herummanövrierte, allein die Bekanntgabe der Zahlen und Trends konnte er - eingebettet in europäische Expertise - nicht mehr verheimlichen, wie er es gerade noch mit dem
Armutsbericht gemacht hatte. Immerhin sprechen wir von einer Abwanderungsbewegung, die mit denen Ende des 19. Jh. nach Amerika und jener 1956 f. vergleichbar ist...

Altersgruppen 1. in Ungarn, 2. der Auswanderer seit 1990, 3. der Auswanderer ab 2009. Wie zu sehen bilden die unter 40jährigen mit 40% seit 2009 die größte Gruppe. Bei den 350.000 seit 2013 Geflohenen beträgt ihr Anteil sogar 80%.

 

Laut den vom Projekt SEEMIG übernommenen und mit EU-Daten abgeglichenen Zahlen des KSH, sind aus Ungarn allein seit Mitte 2010 bis 2013 rund 350.000 Menschen netto (also abzüglich der Rückkehrer) ausgewandert, wobei seit 2009 eine stetige Zunahme zu verzeichnen ist. Von diesen sind 80% jünger als vierzig Jahre, 32% haben einen Hoch- oder Fachhochschulabschluss, 14 Prozentpunkte mehr als der Bevölkerungsschnitt daheim. 84% gaben berufliche Gründe für die Auswanderung an, nur 10% bekennen sich klar zu einer Rückkehr in die Heimat, die meisten, 37%, sind dahingehend unentschieden, für ein Viertel aller Auswanderer ist die Entscheidung eher endgültig. Auch dieser Wert stellt einen neuen Negativrekord dar.

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Deutschland, Österreich und Großbritannien sind mit Abstand die häufigsten Zielländer. Die Auswanderer in die beiden erstgenannten Länder sind verhältnismäßig älter (40 bzw. 37) Jahre als die ins Vereinigte Königreich ziehenden, mit im Schnitt 33 Jahren. Letztgenannte Gruppe hat einen höheren Anteil an Hochschulabsolventen (36% für Großbritannien zu 23% in Deutschland und nur 18% in Österreich), während nach Österreich (41%) und Deutschland (37%) mehr Facharbeiter auswandern.

Das heißt: aus Ungarn gehen - im Unterschied z.B. zu Rumänien, nicht in erster Linie die Ärmsten, sondern die Jungen und Qualifizierten, mithin die Zukunft des Landes - Rückkehr in den meisten Fällen unwahrscheinlich. Für Ungarn bedeutet das nicht nur effektive Verluste an Wirtschaftsleistung, Steuereinnahmen, Kaufkraft und Rentenbeiträgen, Geburten und mithin eine Gefährdung des sozialökonomischen Gleichgewichts, sondern einen "brain drain", der auch die Zukunft des Landes gefährdet bzw. die Optionen einschränkt.

Die von Regierungspolitikern kolportierten Prognosen, wahlweise als "Produktionszentrum Europas", "Arbeitsgesellschaft" (lies: Hautpsache beschäftigt, egal wie und für wie viel) "schollenverbundene Agrargesellschaft" oder "Reiternation" fortbestehen zu wollen, könnte so selbsterfüllend werden, denn für eine wissensbasierte Technologiegesellschaft - wo man gemeinhin die Zukunft Europas verortet - fehlt bald schlicht das Personal.

Orbáns Arbeitsmarktpolitik zielte bisher lediglich darauf, so viele Menschen wie möglich "in Arbeit" zu bringen und "steuerpflichtig" zu machen. Er ist sich dabei nicht zu schade, die gesellschaftlich völlig asoziale Flat tax (16%) als Errungenschaft zu behaupten, denn durch den Wegfall der Freibeträge für die untersten Einkommensgruppen wurde die Zahl der Steuerzahler tatsächlich enorm erhöht - die zahlen zwar - wegen der zweistelligen Entlastung der Besserverdiener in absoluten Zahlen nun jährlich 1-2% des BIP weniger Steuern, aber die Statistik der Einzahler stimmt.

Ebenso läuft es bei der Arbeitslosigkeit: 890.000 Arbeitsplätze sind staatlich durch ein "Job protection programme" subventioniert (Kosten jährlich: ca. 800 Mio. EUR bzw. 0.9% des BIP), 750.000 öffentliche Bedienstete und 240.000 Kommunalbeschäftigte Billigstarbeiter müssen die seit 2008 rückläufigen echten Arbeitsplätze in der freien Wirtschaft - statistisch - auffangen - vollständig steuerfinanziert. Außerdem wurden Frührentner offiziell zu "Gehaltsempfängern", also Steuer zahlenden Beschäftigten umdeklariert, im Ausland arbeitende Ungarn, die wegen der Familienanbindung einen Wohnsitz in Ungarn behalten, gelten ebenfalls als "Beschäftigte".

Nur 3% verlassen das Land für ein Studium oder eine Ausbildung,
aber 84%, um zu arbeiten....

Warum gehen so viele Junge und gut Ausgebildete?

Die
"Hochschulreform", also die massive Kürzung staatlichen Engagements (rund 40% seit 2010), der Zuschnitt auf "ökonomisch sinnvolle" Zweige, die ideologische Gängelung sowie die Kopplung von Rückzahlungspflichten von Studienkrediten an Bleibepflichten bei gleichzeitigem Mangel an adäquat bezahlten Jobs sind ein wichtiger Grund.

Weiterhin eine Lohn- und Steuerpolitik, die die Big Player der ausländischen Industrie priviligiert und im Lande halten soll (bei Nokia, Samsung, Danone etc. hat das nicht geklappt) - aber auch auf Kosten der Einkommen der Angestellten geht, in dem man z.B. die Körperschaftssteuern für die Autoindustrie nochmals senkt, aber die Einkommen durch äußere Umstände unverändert blieben bzw. real wegen etlicher Verbrauchssteuern und anderer Abgaben sanken. Und nicht zuletzt ist es die fehlende Förderung des Mittelstandes, die der parteipolitischen Klientelpolitik sowie einem systematischen Raubzug an den EU-Milliarden unterworfen ist. Durch dieses Missverhältnis hat Ungarn die Abhängigkeit von ausländischem Kapital - entgegen der gepflegten "Befreiungstheologie" - nur noch weiter verstärkt.

All diese Komponenten (neben unseriöser
Finanzpolitik, Überschuldung von Staat (die höchste aller Zeiten) und Privat, Ressourcenverschwendung durch Prestigeprojekte, Zusatzkosten und -risiken durch Verstaatlichungswahn, Abbau sozialer Auffangnnetze, schlechte Gesundheitsverseorgung) führen letztlich zu einer tatsächlichen Verschlechterung der Lebensbedingungen großer Bevölkerungsschichten (wie die aktuellen Armutszahlen sehr eindrücklich - vor allem auch im Vergleich mit Ländern wie Tschechien, Slowakei und Polen berichten) und die damit einhergehende und kalkulierte soziale Spaltung eines Ständestaates zusätzlich zu einer emotionalen Desillusionierung (siehe Wahlbeteiligung), auch mangels einer sichtbaren Perspektive. Eine unwirksame Opposition, also auch das Fehlen von Alternativen sowie der zerrüttete Zustand der Gewerkschaften ist dabei nur scheinbar eine Fußnote.

Orbán jedoch hät stur die Richtung bei und kündigte gerade das "größte Wirtschaftsförderprogramm aller Zeiten" an. Nur für wen,
das ist die Frage. Denn gleichzeitig mit der Ankündigung sickern auch Informationen über ein "größtes Sparpaket" aller Zeiten durch.

 

Aus der ökonomischen und sozialen Lage Ungarns folgt, dass die Auswanderungswelle durchaus eine Abstimmung mit den Füßen über den Zustand des Landes und damit über Orbáns Politik darstellt, die zwar nicht so spektakulär wie die für Orbán günstige Abstimmung an den Wahlurnen ist, dafür nachhaltiger wirkt und letztlich auch schwerwiegende Konsequenzen zeitigen wird. Wer kann, der geht. Und immer mehr gehen, um fern zu bleiben. Diese Entwicklungen als Erfolge und als für Europa beispielgebend zu verkaufen und die Zustimmung von rund 20% der Wahlberechtigten zu seiner Politik als "nationale Einheit" zu feiern, belegt die zunehmende Weltfremdheit der Herrschenden in Budapest.

red. / cs.sz.

Mehr zum Thema: Dünne Suppe, dick aufgetragen: Wachstums-, Arbeits- und Schuldenrekorde im ”Tigerstaat” Ungarn

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