THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 18 - 2014   WIRTSCHAFT 28.04.2014

 

Harakiri in Zeitlupe: Orbáns Finanzpolitik wird Ungarn noch große Probleme bereiten - Analyse & Prognose

Die ersten vier Jahre der Regierung Orbán haben gezeigt, dass die Ausübung von Kontrolle stets über eine vernünftige Risiko- und Kosten-Nutzen-Rechnung für die Gesellschaft gestellt wurde. Ein halbes Land in Existenznot ist Teil dieser Gleichung, die zwar am Ende nie aufgeht, aber so viele Unbekannte hat, dass Unsummen verschwinden können, bevor irgendjemand einen Schlussstrich ziehen könnte. Orbán ist kein Gegenentwurf, er ist ein Bluff.

Die ökonomische und soziale Manövrierfähigkeit eines Staates hängt in erster Linie von seinen finanziellen Spielräumen ab. Die Staatsschulden maßgeblich zu verringern, gleichzeitig die Abhängigkeit von den internationalen Finanzmärkten zu reduzieren sowie die Banken an "den Kosten der Krise" stärker zu beteiligen, war das vornehmliche Ziel des von der Orbán-Regierung inflationär verwendeten Begriffs des "Unabhängigkeitskampfes", des "Krieges gegen die Schulden" und der vielen weiteren Kriege, Kämpfe und Schlachten.

Der Haushalt gibt keine Mittel her

Die Kriegsrhetorik ist geblieben, die Lage hat sich jedoch verschlechtert. Warum? Entgegen den Erfolgsmeldungen der Regierungspropaganda verharrt die öffentliche- und offizielle ! - Schuldenquote nach wie vor bei rund 80% des BIP und ist somit nach wie vor ein Viertel bis um die Hälfte höher als in vergleichbaren Volkswirtschaften der Region. In absoluten Zahlen hatte Ungarn
noch nie so viele Schulden wie heute - nicht einmal unter den "Sozialisten", auch wenn viele Fidesz-Anhänger tatsächlich glauben, das Land wäre seit der Rückzahlung des IWF-Kredites schuldenfrei. Zwar kann man sich, Dank Unmengen vagabundierenden Kapitals, moment ziemlich preiswert an den Märkten refinanzieren, doch handelt es sich dabei auch nur um eine Umschuldung, also die Aufnahme neuer Kredite zur Finanzierung fälliger Anleihen.

Der
Refinanzierungsbedarf (derzeit knapp 20% des BIP) wird in den nächsten Jahren nicht geringer werden, da der Haushalt, selbst bei Eintreten des prognostizierten Wachstums keine Mittel freigibt. Die jährlichen Defizitziele konnten ohnehin nur durch Sondersteuern, Auslagerung in Staatsbetriebe (derer immer mehr werden), vor allem aber durch Einmaleffekte wie die Vereinnahmung und zweckentfremdete Verwendung der Rentenbeiträge aus dem ehedem obligaten privaten Zweig der Rentenkasse knapp unter der Maastricht-Grenze gehalten werden.

Doch strukturelle Maßnahmen zur Budgetgesundung blieben aus, u.a. wegen des fehlenden wirklichen (tatsächlichen, nicht durch Konjunktureinflüsse ausländischer Konzerne, EU-Gelder und gutem Wetter simulierten) Aufschwungs sowie der stetig steigenden Kosten für die paternalistische Politik, z.B. am Arbeitsmarkt (in diesem Jahr wird schon jeder 10. Arbeitsplatz direkt oder indirekt steuerfinanziert sein), Klientelpolitik (Flat tax) aber auch die repräsentativen Bedürfnisse der Eliten (
Stadien, Repräsentationsbauten, gernzüberschreitendes Separatistensponsoring etc.) Das Haushaltsdefizit verkam zu einer aussagelosen Pseudokennzahl, eine Pflichtübung zur Ruhigstellung Brüssels.

Während die Staatswirtschaft für teures Geld weiter ausgebaut wird, was zwar weitere Kaschierungsmöglichkeiten für Verbindlichkeiten sowie Spielwiesen für mafiöse Umverteilung eröffnet, aber kaum langfristige Gewinne verspricht, sind Branchen-Sondersteuern ausgereizt, die
Rentengelder schlicht ausgegeben. Das BIP-Wachstum, so es stabil bleibt, schafft es gerade, die jährlichen Löcher nicht noch größer werden zu lassen. Entlastung bringt ein dauerhaftes Wachstum unter 3% Ungarns Haushalt ohne Strukturreformen nicht. Woher nimmt Ungarn also in den nächsten Jahren die Gelder, die es nicht hat, aber braucht?

Der Staat rettet sich auf Kosten seiner Bürger

In den kommenden Jahren steht Ungarn vor einer komplizierten, aber logischen Risikospirale bei der Finanzierung der Staatsschulden sowie der Staatsangelegenheiten: Die extreme Niedrigzinspolitik der regierungskontrollierten Zentralbank soll Forintanleihen für Inländer attraktiver machen, da diese nun deutlich höher verzinst sind als Sparguthaben. Doch der auch dadurch zwangsläufig unter Druck bleibende und tendentiell weiter fallende Forint erhöht gleichzeitig den Druck auf Hunderttausende Forex-Schuldner und zwar so stark, dass sie daraus resultierenden sozialen Spannungen für die Regierung mittelfristig gefährlich werden können. Der Staat agiert also im Zweifel auf Kosten seiner Bürger, um die Abhängigkeit von internationalen Geldgebern verringern zu können...

Dem
Forex-Problem soll wiederum die Politik zu Lasten der Banken entgegenwirken, was allerdings die durch Sondersteuern und allgemeinen Vertrauensverlust ohnehin verhärtete Kreditklemme nur verschärft. Dagegen hat die Nationalbank ein enormes Kreditprogramm von insgesamt 10% des BIP auf den Markt gespült, das diese Klemme lösen helfen soll, kurz: sie druckt Geld bzw. verschuldet den Staat in kurzfristigen Anleihen noch tiefer. Wie sich gezeigt hat, benutzen aber auch die Unternehmen dieses billige Geld mehr für die Umschuldung als für Investitionen oder die Schaffung echter Arbeitsplätze.

Der aus der Geldschwemme resultierenden erhöhten Inflationsgefahr begegnet zwar kurzfristig der Effekt durch die gesetzlichen Energiepreissenkungen. Experten befürchten hier aber einen weiteren gefährlichen Bumerang, denn mangelnde Investitionen, abziehendes Kapital und ausbleibendes Know how sowie Misswirtschaft durch Beamtentum in den Chefetagen werden die Ersparnisse später auffressen und entweder als Preis- oder Steuererhöhungen zurückkehren, nebst einer dann wieder steigenden Inflation.

Energiebereich als Paradebeispiel der Fidesz-Chimäre vom "neuen Ungarn"

Der Energiesektor ist dabei nur ein Beispiel einer sehr riskanten Renationalisierungspolitik, die ja bei Lichte nur eine Umschichtung von westlichen Playern auf Russland und weitere "strategische Partner" der "Ostöffnung" bzw. die parteieigenen Oligarchenstrukturen ist. Der Atomdeal mit Putin und der wachsende Einfluss russischer Unternehmen im ungarischen Gasmarkt belegt diese Umverteilung für den Energiesektor sehr deutlich. 10 Milliarden EUR Kredit von Russland, zusätzlich bis zu 3 Mrd. EUR Eigenleistungen Ungarns für die neuen Blöcke in Paks, mit katastrophalen Zwangsklauseln seitens des nicht zimperlichen Geldgebers sind ein Damoklesschwert, das in ca. 10-15 Jahren auf das Land herniedergehen kann, ganz sicher aber die finanziellen Spielräume der kommenden Regierungen massiv beschränkt - mit den entsprechenden politischen Auswirkungen.

Die tschechischen Kollegen von CEZ kamen kürzlich nicht grundlos zu dem Schluss, dass sich ein Projekt dieser Größenordnung schlicht nicht rechnet, wenn der Staat nicht einen gesetzlichen Mindeststrompreis frestschreibt. Die Konsequenz: man stornierte den Temelin-Ausbau zunächst. Der geforderte Preis läge - wie selbst der Paks AKW-Betreiber in einer internen Studie nachwies so deutlich über den heutigen, politisch gewollten Tarifen, dass Fidesz seine komplette Wählerbasis vor den Kopf stoßen müsste, denn viel mehr als Orbán und Energiepreissenkung hat man schon heute nicht mehr zu bieten gehabt.

Doch die ersten vier Jahre Orbán haben in allen Belangen gezeigt, dass die Ausübung von Kontrolle über eine vernünftige Risiko- und Kosten-Nutzen-Rechnung für die gesamte Gesellschaft gestellt wird. Das lässt nur den Schluss zu, dass es um Vorteilsnahmen für beschränkte Kreise gehen muss.

Blaupausen für parteiliche Aneigungspolitik

Beispiel Banken: In den kommenden vier Jahren wird sich vor allem auf dem ungarischen Bankenmarkt eine enorme "Konsolidierung" einstellen, sowohl Nationalbankchef Matolcsy wie auch der OTP-Chef und Oligarch Sándor Csányi sind sich darin einig, dass
vier bis fünf namhaftere Kreditinsitute das Land verlassen oder aufgesaugt, bzw. lt. Matolcsy “verschwinden” werden. Dazu gehört ganz sicher die MKB (heute noch bei Bayern LB, wird wohl nächstes Jahr verkauft, um EU-Auflagen zur dt. Bankenhilfe zu erfüllen), nicht ganz unwahrscheinlich auch die österreichische Raiffeisen, deren Standing trotz Bleibe-Beteuerungen des Wiener Vorstandes sich zusehends verschlechtert. Budapest Bank, CIB, Erste sind weitere Kandidaten, die durch Kapitalabzug und / oder eiliges Gesundschrumpfen auf sich aufmerksam machen.

Doch Orbáns so globalisierungskritisch daherkommende Zielvorgabe, 50% des Bankenmarktes in "ungarischer Hand" sehen zu wollen, hat einen dicken Pferdefuß. Er sagte ganz bewußt nicht in "Volkes Hand", ja nicht einmal in staatlicher Hand - was er damit meint, exerzierte die Nomenklatura gerade bei der Genosschaftsbank Takarékbank und den assoziierten, nunmehr einverleibten Spargenossenschaften in einem
lehrbuchhaften Gaunerstück vor.

Die dort vollführte Prozedur folgt der Blaupause für alle Aneignungen der Fidez-Regierung, ob es sich dabei um die Verteilung der EU-Milliarden handelt, die Reconquista durch
das neue Bodengesetz, Tabakhandelslizenzen oder die Vergabe von Bau- und Standortgenehmigungen handelt, ob es die Einführung von Sondersteuern für die Finanzierung von teuren Hobbys des Herrscherclans (Stadien) geht oder die Etablierung von Preiskartellen: Gesetzliche Rahmenbedingungen werden auf die Bedürfnisse der jeweils Begünstigten zugeschnitten und später, viel später, den Einsprüchen von Verfassungs- und EU-Gerichten so angepasst, dass Justitia formal befriedigt ist, - ohne dass substantiell etwas zurückgenommen würde.

MNB will "Devisenreserven sanft reduzieren...": Das letzte Sparschwein wird geschlachtet!

Die Durchdringung aller Gewalten zum Nutzen des Standes und des Machterhalts ist ein komplexes Werk der Parteistrategen rund um Orbán, dessen Dimensionen erst bei einem Machtwechsel so richtig sichtbar werden können. Um auf unser Untersuchungsobjekt, die Staatsfinanzen zurückzukommen, bedeutet das nur, dass die Politik des Plünderns von Quellen und des Stopfens von Löchern sich zu einer höheren Schule der Chaostheorie auswachsen muss. Die vor wenigen Tagen - und wohlweislich nach den Wahlen - von der Nationalbank gemachte Ankündigung, die "Devisenreserven sanft zu reduzieren", zeigt schon an, wo die Reise hingeht.

Wann kommt die "Volksanleihe"?

Diese letzten Reserven, immerhin ca. 30% eines jährlichen BIP, müssen für den schönen Schein der Statistik und die Vollendung des begonnen Projekts "neues Ungarn" aktiviert werden. Danach bleibt nur noch die Zwangsbeleihung von Banken, wozu bereits eine "Änderung der Finanzmarktregelen" angekündigt wurde und am Ende: die "Volksanleihe", die man, sollte es nötig sein, umstandslos einführen wird, greift man doch nicht auf die Eigentumsrechte der Bürger zu, sondern "im nationalen Interesse" nur "temporär auf Teile der Verfügungsrechte", um "die durch den Euroraum entfachte und pronlongierte Krise" zu überstehen, wie ein dieser Zeitung vorliegender Entwurf es formuliert, der übrigens nicht erst seit einem Jahr in einer uns ebenfalls bekannten Schublade auf seinen Einsatz wartet. Schon 2011 musste die Regierung hektisch dementieren, dass sie "irgendwelche Zugriffe auf Spareinlagen plane." Bei den Rentenbeiträgen verfuhr man genauso. Man behauptet, dass die "Ansprüche" bestehen bleiben, allein: das Geld ist weg.

Waren die "Sozialisten", die eigentlichen Repräsentanten des EU-forcierten Neoliberalismus´, mit Blick auf ihre Wählerzielgruppen einfach verschwenderisch in Sachen Staatsausgaben, vollzogen die Rechtsnationalen den Schritt zur Aneignung öffentlicher Mittel für eigene Zwecke nahezu vollständig. Der Unterschied besteht nun darin, dass die Fehlleistungen der ersten durch ein funktionierendes Staatswesen noch reparabel waren, die Politik konnte geändert werden.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es keine Anhaltspunkte gibt, die darauf hindeuten, dass Ungarns Staatsfinanzen auf gesundem Fundament stehen. Man lebt von Tag zu Tag und dauert dieser Tag auch ein Jahr. Der Rest ist Harakiri in Zeitlupe, langanhaltende Finanznot scheint sicher, sogar ein Kollaps ist nicht auszuschließen.

Neoliberalismus gegen Brachialmagyarismus?

Selbst bekannte Analysten, Ratingagenturen, Banken und internationale Organisationen sind bereits auf die Budapester Blender mit ihrer "Erholung" hereingefallen. Das ist auch völlig logisch für ein Soziotop, das glaubt, den Zustand einer Gesellschaft von Charts und Tortendiagrammen ablesen zu können und das Haushaltsdefizit oder BIP-Veränderung zum Vorjahr für Gradmesser wirtschaftlicher Gesundheit hält. Diese Truppe ist von ihrer Ideologie genauso blind besessen, wie die ungarische Rechte mit ihrem Brachialmagyarismus.

Doch die praktischen Auswirkungen der Politik Orbáns auf die Mehrheit der Bevölkerung belegen, dass seine Rhetorik von der Befreiung, dem Stehen auf eigenen Füßen und der Verbesserung der Lebensstandards Lügen und / oder Versagen waren. Ebenso wie es die Verheißungen des neoliberalen Mainstreams in Europa waren bzw. immer noch sind. Das als Gegenentwurf zum entfesselten Finanzkaptialismus postulierte Konzept hat - bis auf die Fesseln -
praktisch alle ökonomischen Ziele verfehlt, weil man den Kopf, der stank nicht abschlug, sondern nur selbst Kopf sein wollte. Was man wirtschaftlich nicht erreichte, suchte man politisch zu kompensieren, in dem man das System dem eigenen Versagen unterwirft, um am Ende wie ein Sieger dazustehen. Es wurde ein Verfassungsputsch.

Es bedeutet im heutigen Umfeld schon Einiges, wenn der Chef eines "Think tanks" (Péter Heim vom ökonomischen Zweig des Institutes Századvég am Freitag in einem Interview mit Heti Válasz), das wegen milliardenschweren Regierungsaufträgen nicht umsonst als linientreu gilt, dem Regierungschef dringend davon abrät, mit seiner "Kriegsrhetorik" fortzufahren und folgert, dass der Massenexodus junger, qualifizierte Menschen ein klares Zeichen dafür sei, dass "die ungarische Jugend (konzeptionell) lieber im Westen als im Osten" lebt.

 

Doch Orbán ficht das nicht an, er hat sein Land mit statistischen und behördlichen Fassaden á la Potëmkin zugestellt und Orwellsche Strukturen vorbereitet, hinter denen er und seine Parteifreunde sich sicher fühlen und ihren Neo-Feudalismus weiter aufbauen können, - sponsored by EU. Das Wahlergebnis ist für Orbán eine klare Aufforderung für ein “Weiter so”, auch wenn ihm nur noch rund 25% der Ungarn (so viele wählten Fidesz) folgen wollen. In den kommenden vier Jahren wird sein System, die “nationale Revolution” vervollkommnet werden und, wie es im schönsten Doppelsprech heißt: "die Ernte eingefahren". Von dieser profitieren naturgemäß die Herren der Felder, nicht die Feldmäuse. Die ungarische Jugend interessiert hier nur als Projektionsfläche, Arbeitskraft und Konsument, - ihr Schicksal, ihre Rechte auf Selbstentfaltung und -bestimmung daher weniger.

Orbán ist kein Gegenentwurf, er ist ein großer Bluff, nur eine besonders dreiste Spielart ein und desselben Systems, er ist Teil des Problems, nicht der Lösung, nur ein Fieberschub in einem chronischen Krankheitsverlauf. Das erklärt auch die unverbrüchliche Solidarität seiner westeuropäischen Parteifreunde. Ein halbes Land in Armut und Existenzangst ist ein Teil in Orbáns Gleichung, einer Gleichund, die zwar am Ende nie aufgeht, aber so viele Unbekannte hat, dass Unsummen verschwinden können, bevor irgendjemand einen Schlussstrich ziehen könnte.

cs.sz. / m.s.

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