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(c) Pester Lloyd / 44 - 2012   POLITIK 02.11.2012

 

Die anderen `Zwei Drittel`

Wie rettet man Ungarn? Fragen an Gordon Bajnai, die neue Hoffnung der Opposition

Nach seiner Rückkehr auf die politische Bühne am 23. Oktober, dreht Ex-Premier Gordon Bajnai derzeit seine Runden bei den ungarischen Medien. In diversen Interviews sprach er über das Oppositionsbündnis "Gemeinsam 2014!", die kommende "Schicksalswahl", verteidigte sich gegen Vorwürfe selbst ein "Magnat" zu sein und stapelt der Regierung ihre Sünden auf. Die Rechte will ihn medial schnell als "Heilsbringer" und U-Boot der Linken verbrennen, der doch nicht halten kann, was er verspricht. Doch Bajnai verspricht gar nichts, sondern tritt als um sein Land besorgter Bürger an.

“Gemeinsam 2014!” - “Sei dabei!” - Bajnai kündigte auf der Oppositionsdemo am 23. Oktober vor ca. 80.000 Menschen sein Comeback an.

Schlussakord und Ouvertüre" für die nächsten 25 Jahre

Am Ende sei es nicht entscheidend, ob man 2,5 oder 3 Millionen Stimmen brauche, um Orbán abzulösen, wenn man den Menschen klar machen kann, dass es bei den Wahlen nicht um kurzfristige Konkurrenz von Interessen, sondern grundlegende Fragen für die Basis des Landes geht, wozu "die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit zählt, deren Zerstörung gerade im Parlament stattfindet". Bajnai beklagt in Interviews, u.a. auf dem Privatsender TV2, bei einer Provinzzeitung, im führenden Wochenmagazin HVG,  aber auch auf Vorträgen zwar das neue,
mehrfach und in letzter Minute für Wähler und Opposition nachteilig geänderte Wahlrecht, will daran aber nicht Erfolg oder Misserfolg seiner Ambitionen fest machen.

Die Oppositionsplattform "Gemeinsam 2014!" möchte mit den Wählern und Bürgern gemeinsam langfristig demokratische Werte sichern und nicht nur zynisch von "nationaler Einheit" sprechen und gleichzeitig demokratische Standards abbauen. Das Land sei in einer Situation, dass man nicht mehr in 4-Jahres-Zyklen denken kann. 2014, so Bajnai, wird daher die "Ouvertüre" für die nächsten 25 Jahre der Entwicklung in Ungarn erklingen, am besten zuvor noch der "Schlussakord" für die Orbán-Regierung...

Péter Juhász, Gordon Bajnai, Péter Kónya (hier im Interview). Die Chefs der Initiatoren-Gruppen von “Gemeinsam 2014!”: Milla, Heimat und Fortschritt, Szolidaritás Hier die Facebookseite der Plattform http://www.facebook.com/egyutt2014. Die drei Musketiere werden noch viel Verstärkung brauchen, wenn sie Orbáns “Kavallerie” 2014 schlagen wollen...

Rechtsstaat reparieren, Hoffnung in den Alltag bringen

Für ihn ist es entscheidend, zunächst das Vertrauen der Menschen in die Politik zu reparieren, das verfassungsmäßige Aufsichts- und Kontrollsystem (checks and balances) wieder herzustellen, sicher zu stellen, dass "der Rechtsstaat nicht nur für diejenigen da ist, die gerade regieren". Hauptaufgabe einer neuen Regierung aber wird es sein, "den Menschen mehr Hoffnung in den Alltag zu bringen", Maßnahmen zu ergreifen, die das Leben wirklich verbessern, es sicherer und berechenbarer zu machen.

Bajnai rechnet der Orbán-Regierung in seinen Äußerungen umfänglich das Versagen in der Wirtschaftspolitik vor. Es habe dazu geführt: dass das Kapital massenhaft aus dem Lande flieht, Bajnai ergänzt, nicht nur das ausländische, sondern auch das einheimischer Unternehmer. Das Land verlor Kredit und verliert nun auch seine Talente, sowohl Absolventen als auch erfahrene Arbeitnehmer sehen keine Zukunft hier, haben jedes Vertrauen verloren. Das wolle er stoppen. Die Bildungspolitik muss so gestaltet sein, dass jeder Zugang habe und Ausbildung nicht dazu führt, dass die Talente verschwinden.

Der Mittelstand ist nicht das "obere Drittel"

Er sieht, genauso wie Orbán, dass der Mittelstand das Rückgrat der Gesellschaft ist, doch, im Unterschied zu Orbán, definiert er in der Praxis nicht das wohlhabendere obere Drittel als Mittelstand, sondern die Gruppe, die von ihrer eigenen Hände Arbeit lebt (also nicht nur von staatlichen Leistungen, aber auch nicht nur von ihren Vermögenserträgen). Die Steuerpolitik der Regierung unterstütze jedoch nur die Oberklasse und habe die Bürden auf die eigentliche Mittelklasse umverteilt und dabei, so Bajnaj, auch die Schicht der wirklich Armen vergrößert und deren Perspektiven beeerdigt. Der Vorteil des einen Drittels geht zu Lasten der anderen zwei Drittel. Er will aber in einem Land leben, wo es leicht ist aufzusteigen, aber schwer abzurutschen.

Orbán hat die zweite Hälfte seines Wahlversprechens unterschlagen

Sein Think tank "Heimat und Fortschritt" habe eine Alternative zur jetzigen Wirtschaftspolitik erarbeitet, die er jedoch noch mit den neuen Bündnispartnern abstimmen wolle, bevor er mit konkreten Aussagen an die Öffentlichkeit geht. Eines sei jedoch klar: "Niemand kann heute Wunder versprechen, wer es dennoch tut, ist schon ein Lügner." - eine Ansage, die gleichermaßen auf Bajnais Vorgänger Gyurcsány wie auf seinen Nachfolger Orbán zugeschnitten ist. Letzterem wirft er vor, die zweite Hälfte seines Wahlversprechens unterschlagen zu haben, als er ankündigte, dass er das Land zwar komplett umbauen wird, wörtlich "das demokratische System nicht mehr das gleiche sein wird, wie bisher" es dafür aber Wohlstand und Arbeit für alle geben soll. Die Demokratie sei nun futsch, nur den Wohlstand ist er den Menschen schuldig geblieben, so Bajnais Einschätzung der "Leistungen" Orbáns. Das einzige, was das Volk 22 Jahre nach der Wende gewonnen hat, ist eine enttäuschende Erfahrung mehr. Auf seiner Rede am 23. Oktober ergänzte er noch, dass "wir uns eines Tages bei unseren Kindern für diese Regierung werden entschuldigen müssen".

Ungarn ähnelt heute "asiatischen Wirtschaftssystemen"

Über denkbare Koalitionen nach der Wahl hält sich Bajnai in seinen Aussagen bedeckt, er spricht wiederholt von der "Koalition der Wähler", die für ihn zählt und die er sowohl bei der moderaten Linken wie bei der moderaten Rechten verorten wolle, denn eine Partei der Mitte fehle Ungarn völlig. Ungarn brauche jedenfalls keine weitere populistische, radikale oder revolutionäre Rhetorik mehr von Parteien, die letztlich nur die Macht wollen, um sie in den Händen kleiner Zirkel zu konzentrieren und sich dadurch zu bereichern. Die Attitüde der Orbán-Regierung, ihr "staatskapitalistischer Glaube an die Omnipotenz des Staates" bei gleichzeitiger "Infragestellung von Rechtssicherheit" passt nicht einmal mit den Werten der europäischen Konservativen zusammen, sondern "ist mehr ein Charakteristikum asiatischer Wirtschaftssysteme", nur ohne deren ökonomischem Erfolg.


 

Oppositionsplattform noch im Entstehen: Distanz zu Gyurcsány, Vorsicht bei MSZP

Bajnai machte klar, dass die Plattform "Gemeinsam 2014!" auf die Mitarbeit vieler Gruppen angewiesen ist, um erfolgreich bei ihrem Hauptziel zu sein, die Orbán-Regierung bei den nächsten Wahlen abzulösen. Er rief Oppositionsparteien und -gruppen dazu auf, ihre zahlreichen Differenzen für ein Wahlbündnis zu beenden. Die Gründer der Initiative: die "Million für die Pressefreiheit" (Milla), die Gewerkschaftsbewegung Szolidaritás sowie das Institut Heimat und Fortschritt (der Think tank Bajnais), werden die grundlegenden Prinzipien der Plattform in den kommenden Wochen ausarbeiten und jeder, der diese akzeptieren könne, sei eingeladen, daran mitzuarbeiten. Man wolle da so offen wie möglich bleiben, doch sollten die Bündnispartner Gruppen sein, die der Bewegung Unterstützer bringen und nicht Personen oder Gruppen, die Wähler eher vergraulen, so Bajnai.

Eine Ansage, die klar in Richtung der Partei Demokratische Koalition von Ex-Premier Gyurcsány ging. Dieser hatte Bajnai ungefragt zum "Kandidaten der vereinigten Opposition" ernannt, wiewohl die Unterstützung von dessen Seite mehr Menschen abschreckt als anlockt, ist doch die Reputation des "Lügenpremiers" beim Volk diametral entgegengesetzt zu dessen Selbstwahrnehmung. Wer Personalfragen so lange vor der Wahl (Frühjahr 2014) und auf so undemokratische Weise entscheiden wolle, der sende eine „unsympathische Botschaft an die Wähler“, sagte Bajnai.

"Ich war nie Teil des `Big Business`"

Der Parteilose Bajnai war 2009 Premier einer MSZP-Minderheitsregierung, dass er nicht wieder für diese Partei in den Ring steigt, ist eine klare Botschaft an diese, die Regierungspresse sieht dahinter jedoch nur Taktik: Bajnai soll die Mitte mobilisieren und damit auch Kräfte ansprechen, die niemals MSZP wählen würden. - Bajnai räumt in seinen medialen Äußerungen ein, teilweise für die verfehlte Politik (er war seit 2006 Minister) der Vorgänger mitverantwortlich zu sein, er kritisierte auch scharf die verfehlte Reaktion und die ausufernde Polizeigewalt nach der Gyurcsányschen Lügenrede 2006, andererseits konnte auch jeder Bürger sehen, wofür er als Premier stand. Er verneint die Anwürfe der Rechten, selbst ein "Magnat" und Teil des Gyurcsány-Systems (Selbstbedienung, Amtsmissbrauch, Korruption) zu sein. Er wurde in seiner Zeit als Geschäftsführer (Wallis Rt.) für seine Leistung gut beztahlt, war aber nie im "Big Business". Er sieht sich durchaus als wohlhabend an, gehört aber nicht zu den reichsten Tausend, "ich glaube, nicht einmal zu den reichsten Zweitausend" des Landes. Im übrigen erwarte er, dass Fidesz im Wahlkampf alle nur denkbaren Register ziehen wird, um an der Macht zu bleiben.

Zusammenfassung: "Koalition der Wähler" gegen ein paralysiertes Land

Bei aller Vorsicht in Bündnisfragen, gibt sich Bajnai bei der Machtfrage jedoch sehr kämpferisch, kämpferischer als man ihn als Premier 2009/2010 erlebt hat, wo er sich eher als Technokrat und Staatshauptbuchhalter präsentierte, der mit Mühe das Land vor dem Bankrott bewahrte. 2014 wird nach seinen Worten eine Schicksalsentscheidung für das Land. 2014 müsse der Schlussarkord für dieses Regime und seine katastrophale Politik erklingen. Man könne, das was derzeit in diesem Land vor sich geht, einfach nicht weiter geschehen lassen. Dezidiert spricht Bajnai dabei nicht nur von einem Regierungswechsel sondern einem Politik- bzw. Regimewechsel.

 

Er wirft Fidesz vor, ein "System der Dominanz" errichtet zu haben, dass auch die Durchsetzung von Maßnahmen ermöglicht, wenn sie von der Mehrheit der Wähler nicht gewünscht wird. Das Land steht knapp vor der Paralyse, er wolle, mit einer "Koalition der Wähler" diese Tendenz durchbrechen, ob er nun als Spitzenkandidat dafür auftreten wird oder ein anderer, sei für ihn dabei nicht entscheidend. Ob sich eine solche Koalition auch strukturell mit den vorhanden demokratischen Parteien bis zu den Wahlen arrangieren lässt, entscheidet über Erfolg und Misserfolg der Mission.

red. / m.s.

Hintergründe:

Entfernte Freiheit: Ungarn - ein Zustand
Gedanken zu einem Tag, der kein Feiertag mehr ist

"Gackernder Hühnerhaufen"
Zur Zerstrittenheit der ungarischen Oppostition, Positionierungen zu Bajnai

Die Gulaschwirtschaft: Wunsch und Wirklichkeit in Orbáns Ungarn
- der Faktencheck

Sündenregister:
Maßnahmen und Gesetze der Orbán-Regierung auf einen Blick (eine Auswahl bis Januar 2012)

Aktuelle Umfragedaten, Sonntagsfrage, Einfluss der Wählerregistrierung auf die Wahlbeteiligung etc...

Für weitere Hintergrundbeiträge zu einzelnen Themen, z.B. Armut, Arbeitsmarkt, Steuerpolitik, Wahlrecht etc. empfehlen wir die Volltextsuche auf unserer Seite:

 

Bajnai Chronik eines Comebacks:

Hunderttausendfaches Für und Wider - 23. Oktober 2012
Großdemonstrationen von Regierungstreuen und Opposition in Ungarn - Bajnai erklärt Comeback

Comeback des Feuerlöschers? - 9. Oktober 2012
Krisen-Premier Bajnai soll 2014 für Machtwechsel in Ungarn sorgen (mit Werdegang)

Wahlkampfpläne des Hauptbuchhalters - April 2012
Ex-Premier rechnet Chancen für Machtwechsel in Ungarn durch

Gebrochene Wirbel
Ex-Premier übt scharfe Kritik an der Orbán-Regierung in Ungarn - Jan. 2012 -

Unbefleckte Alternative? - März 2011
Bajnai meldet sich mit einem Think tank in der ungarischen Politik zurück

Schlusswort des Staatsbuchhalters - Feb. 2010
Die letzte Regierungserklärung des ungarischen Ministerpräsidenten Gordon Bajnai wurde emotionaler als gedacht

red. / ms.

 

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