THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 08 - 2014   GESELLSCHAFT 21.02.2014

 

Hat Ungarn wieder eine "Judenfrage"?

Zwischen allen Stühlen: Konflikt zwischen Regierung und jüdischen Verbänden in Ungarn geht weiter

Premier Orbán will vor den Wahlen nicht mehr mit dem jüdischen Dachverband verhandeln und das Okkupationsdenkmal wird schon gar nicht diskutiert, sondern lediglich auf Ende Mai verschoben. Die jüdischen Vertreter bestätigen daher ihren Boykott des offiziellen Holocaust-Gedenkjahres. Sie finden sich in der sehr unangenehmen, aber nicht neuen Rolle wieder, als Spielball politischer Auseinandersetzung herhalten zu müssen.

Es gibt es noch, das andere Ungarn: hier beim “Marsch der Lebenden” 2011, angeführt sowohl von Opferverbänden, jüdische Organisationen, Oppositions- und Regierungspolitikern.

Premier Orbán blieb den jüdischen Gemeinden eine Woche lang die versprochene Antwort auf ihren Brand-Brief schuldig, an diesem Donnerstag reagierte er endlich auf die Boykott-Ankündigung des Dachverbandes Mazsihisz zum regierungsamtlichen Holocaust-Jahr. Hier der Brief im Wortlaut (offizielle eng. Übersetzung) In Kurzform: zu den drei Hauptkritikpunkten (siehe Link) werde er vor den Wahlen nicht mehr verhandeln, denn der Wahlkampf gerade sei "die unpassende Zeit", die dafür sorgen könne, dass man sich "selbst bei bestem Willen nicht richtig zuhöre". Orbán ließ offen, ob er damit sich oder die Gegenseite gefährdet sieht, die Gedenkdebatte im Wahlkampf ge- bzw. zu missbrauchen.

Was er im Brief anzubieten hatte war sehr dünn, umso blumiger mussten die Worte gewählt werden. In der Kabinettssitzung am Mittwoch wurde nämlich lediglich beschlossen, dass dem Tag der deutschen Okkupation 19.3.1944 gewidmete - und
heftigst umstrittene - Denkmal zu verschieben, die Errichtung muss nun "spätestens am 31. Mai" erfolgen, wie das Dekret verlautbart, - so als würde der Zeitpunkt der Errichtung wirklich etwas an der Aussage dieses absurden Ensembles ändern.

Orbán betonte in seinem Schreiben mit der üblichen Endlosschleife sein Engagement gegen Antisemitismus und wie ernsthaft er die Gedenkveranstaltungen und das “Haus der Schicksale” (War der Holocaust ein Schicksal, Herr Orbán?) etc., klar wurde dabei aber auch, dass er von seinem mit dem rechten Rand kalkulierenden Geschichtsrevisionismus - also die Rolle Ungarns vor der Nazibesetzung und die ganze Ära Horthys betreffend - nicht abzurücken gedenkt. Und diese Botschaft ist letztlich das, was für Orbán zählt, weil sie machttechnisch eine Relevanz hat und das Zeichen an das hochgezüchtete rechte Sentiment aussendet: wählt uns, wir fühlen wie Ihr, dürfens nur nicht sagen. Hier liegen die Grenzen der Einsicht,
hier wird das Holocaust-Gedenkjahr zur reinen Show.

Die Frage, die sich für ihn und seine Regierung stellt, ist nur: wie verkaufe ich es den "liberalen" Medien im Ausland, wie verkaufe ich es Israel, wie dem WJC? Den ungarischen Juden brauchte Orbán bisher nichts verkaufen, er kaufte sie lieber. Selbst dieses eingespielte Subventions-Ritual ist heute gefährdet.

Der Dachvberand Mahizsisz dankte - einmal mehr - für die warmen Worte des Premiers, befand aber keines der drei Probleme (Veritas-Institut, Haus der Schicksale, Okkupations-Denkmal) gelöst, daher habe es beim Boykott der Regierungsveranstaltungen, einschließlich der zur Verfügung gestellten Mittel zu verbleiben. Man wolle nun auf Spendensammlung gehen, um ein "regierungsfernes" Alternativprogramm aufzustellen, um den Opfern des Holocaust an den ungarischen Juden würdig gedenken zu können.

Orbán und die Rückkehr der Schaukelpolitik: vor dem WJC im Mai 2013 und der Weltöffentlichkeit der Musterdemokrat, nach innen und in der praktischen Politik knallhartes Machtkalkül,
einschließlich Kollateralschäden.

Die Regierungsseite indes sendet ihre Unterhändler mit Koffern voller Kreide bis nach Israel, um für Verständnis für ihre Positionen zu werben. Dort war kürzlich der ungarische Botschafter ins Außenministerium einbestellt worden und durfte sich einige unbequeme Fragen zur Diskrepanz von Wort und Tat anhören. Übrigens: über den Chef des staatlichen Veritas-Institutes, das u.a. das neue "Haus der Schicksale" konzeptionell bebrüten wird und dessen Chef, ein "Militärhistoriker" von der Regierungspartei eingesetzt, kürzlich meinte, dass Deportationen von ungarischen Juden "fremdenpolizeiliche Maßnahmen" waren, über diesen "Historiker" sprach das Kabinett am Mittwoch nicht. D.h.: er bleibt weiter im Amt. Eine andere "Historikerin", die amtliche Geschichtsrevisionistin Schmidt vom "Haus des Terrors", sprach der Mazsihisz kurzerhand das Recht ab, überhaupt für die ungarischen Juden zu sprechen (was man nicht tut, sondern nur für die Mitgliedsorganisationen, die aber die maßgeblichen sind). Der Subtext bei all diesen (mittelbaren) Regierungsvertretern: hier wir Ungarn, da die Juden. Die Neonazis von Jobbik können sich zurücklehnen und genießen...

Gestern sprang Orbán ein - passenderweise ultraorthodoxer - Rabbi (diese Strömung, eine Art jüdische Taliban, lebt von der Trennung in normale und auserwählte Menschen) bei, der - hier im Zusammenhang mit dem Esztergomer Synagogenskandal - die Linke bezichtigte "die Juden für ihren Wahlkampf zu missbrauchen", einen Vorwurf, den er auch auf den Dachverband ausweitete. Dabei hatte sich die Linke, mehr aus "fachlicher" Unsicherheit denn aus Taktik, bei dem Streit zwischen Gemeinden und Regierung weitgehend zurückgehalten. Ex-Premier Bajnai, vom linken Wahlbündnis "Zusammenschluss" kommentierte die Denkmals-Velegungsentscheidung erwartbar mit den Worten, dass man sich nicht von dem "Spielen auf Zeit" der Regierung beeinflussen lassen soll. "Pläne, die Geschichte zu fälschen, müssen ein für alle mal verhindert werden." Ist das nun Wahlkampf? Soll die Linke gar nichts sagen?

Superminister und Kalvinistenpfarrer Balog, der bereits mehrere Rechtsextremisten mit staatlichen Orden behängte und erst kürzlich damit auffiel, den statistischen Geburtenrückgang bei Roma als "Erfolg" zu verkaufen und für den alle, die sich nicht an die 10 Gebote halten, "keine Europäer" sind, dieser Vorzeigehumanister bezeichnete die Boykott-Entscheidung des Dachverbandes als "kurzsichtige Entscheidung", eine Formel, die man im "konservativen" Lager sofort als gesichtsbewahrende Sprachregelung akzeptierte, auch wenn sie ein klarer Schuldumkehr-Versuch ist. Denn, dass diese Entscheidung die Folge anderer - offenbar durchaus weitsichtiger - Entscheidungen ist, diese Frage behandelt der Pastor auf dem Ministersessel nicht, denn: die Partei hat - wie Gott - immer Recht.

Ausgrechnet Innenminister Pintér dozierte am Donnerstag bei einer Zeremonie für “Gerechte unter den Völkern” darüber, dass man “Extremismus aller Art” auch im “täglichen Leben” zurückdrängen müsse. Jener Minister, dessen Polizei gesetzeswidrige, uniformierte Aufmärsche geschehen lässt und sich dabei auf die Gerichte beruft, deren Urteile man - wenn sie gegen die Regierungslinie gehen - ohne große Umstände umgeht oder notfalls durch Verfassungsänderungen aufhebt.

Selbstzerstörerische Duldsamkeit: Die “letzten Mohikaner des Pester Lloyd”, interniert auf einem Budapester Fabrikgelände und kurz vor der Deportation nach Auschwitz, zur Schau gestellt als “jüdische Ex-Journalisten” auf einem Foto in einer unbekannten ungarischen Zeitung 1944. Von links nach rechts die leitenden Redakteure: Ernö Geiringer, György Kecskeméti, István Keller, Péter Sugár, Gyula Morgenstern. Sie harrten - als überzegute ungarische Patrioten - bis Ende 1944 in der Redaktion aus, längst illegal, denn Hortysche Judengesetze erteilten ihnen schon seit 1938/39 ein Berufsverbot. Ihr Beschützer war ein christlicher Chefredakteur, Georg v. Ottlik, doch auch er konnte letztlich nichts mehr tun und wurde zunächst von einem ungarndeutschen “Kollegen”, dann einem Kommissar des Reichspropagandaministeriums ersetzt. Rechtes Foto: unbehelligt marschierende Neonazis in Budapest, 70 Jahre danach.

Die regierungsfreundliche Presse folgt ebendiesem Schema der Ursache-Wirkung-Umkehr, einer Technik, die dem ungarischen Staatsmann als "Berufsopfer" praktisch im Blute liegt und dem das Volk gerne folgt: Kommentatoren behaupten offen, Mazsihisz verfolge die Interessen der Opposition. Wer die Vertreter des ungarischen Judentums wirklich kennt, weiß hingegen, dass sie alles sind, nur keine Linken. Es sind die Zustände unter Orbán, die jene handeln lassen, deren Duldsamkeit sonst geradezu legendär ist.

Es ist die Einsicht, dass es ihren Interessen - die, entgegen weit verbreiteten Klischees - in erster Linie in einer friedlichen Existenz und Koexistenz in ihrer Heimat Ungarn liegen, unter einer Nicht-Fidesz-Regierung besser geht als heute. Das wird kein Vertreter des ungarischen Judentums (ob Gemeinden oder Kulturverein) je laut aussprechen, denn "zwischen allen Stühlen zu sitzen", das haben die Juden nicht nur in Ungarn lernen müssen, es ist quasi ihre von außen aufgedrängte, historische Bestimmung. Sie setzen sich nicht dorthin, sie werden platziert...

Es geht nicht nur um Symbole, auch um konkrete Politik

 

Es geht bei der Debatte also nicht nur um Denkmale, Gesten und Historikerkonferenzen: es geht um die Duldung nazistischer Aufmärsche trotz gesetzlichen Verbots, um genehmigte Nazitreffen in Synagogen, um Antisemiten im Schullehrplan und im Straßennbild, im Parlament, im Fidesz und in der regierungsnahen Presse. Es geht um konkrete Politik, um das Alltagsleben und die Zukunft der Juden in Ungarn, nicht nur um Symbolik.

Die ungarischen Juden sind nicht die erste und einzige und schon gar nicht die größte "Minderheit" im Lande, die für den Machterhalt der Rechtspopulisten instrumentalisiert wurde und wird. Im Unterschied zu den Roma aber, haben die ungarischen Juden starke Fürsprecher in der Welt, eine Lobby und sind mitten in der Gesellschaft verankert. Das macht sie stärker, provoziert aber auch ihre Feinde umso mehr.

Dass es überhaupt so weit gekommen ist, dass sich in Ungarn heute wieder eine "Judenfrage" zu stellen scheint, das ist weder das Ergebnis der Auftritte von Jobbik und den "Garden", noch eine Folge des Verhaltens der jüdischen Vertreter. Die Wahrnehmung sich zuspitzenden Antisemitismus` und Rassimus` in Ungarn ist Folge der "Schaukelpolitik" der Regierung Orbán, die das Eine sagt, aber das Andere macht - oder eben unterlässt.

red. / m.s.

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