THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 37 - 2014   NACHRICHTEN   08.09.2014

 

Der Politkommissar: Ungarn entsendet treuen Orbánisten als EU-Kommissar nach Brüssel

Der ungarische Außenminister und Vizepremier Tibor Navracsics, zuvor Minister für Öffentliche Verwaltung und Justiz, wurde - wie bereits im Juni berichtet - von Premier Orbán als ungarischer EU-Kommissar nominiert. Die Opposition verweigert ihm die Unterstützung, die Regierungspartei sieht darin Landesverrat. Die Personalie Navracsics ist ein deutliches Statement Orbáns gegen Europa als eine Gemeinschaft demokratischer Staaten. Denn Navracsics soll unter Juncker nicht die EU stärken, sondern allein Orbáns Interessen vertreten. Wird die EU das verhindern?

Kongeniale Machtmenschen oder Treppenwitze der Geschichte?
Vizepremier Navracsics und sein Chef Orbán

Handel oder Binnenmarkt als wahrscheinlichste Posten

Das Wunschkommissariat der Ungarn ist (wissend das man das geldtriefende Ressort für Regionalentwicklung kaum bekommen wird) jenes für die Erweiterung und Nachbarschaftspolitik. Das würde Orbán am besten in den Kram passen, könnte er so doch seine "Ostöffnung" sowie seine gewünschte Pole Position gegenüber dem Balkan unter dem Dach der EU ausbauen. Eben wegen dieser Partikularinteressen wird sich dieser Posten aber ebenfalls nicht ausgehen, zumindest, wenn Juncker noch bei Trost ist. Denn zu groß ist die Gefahr, dass der Status von Beitrittsverhandlungen und die Prioritäten bei der "östlichen Partnerschaft" rein an den Latten Budapests gemessen wird. Für die Zukunft der Gemeinschaft hängt von diesem Posten einfach zu viel ab, um ihn einem Orbánisten zu überlassen.

Derzeit gelten das relativ bedeuntungslose Ressort Handel oder das Ressort Binnenmarkt und Dienstleistungen als nicht unwahrscheinlich. Letzterem wohnt nicht wenig Ironie inne, dürfte Navracsics dann nämlich selbst die zahlreichen Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn einleiten, mit denen sich die EU wegen jeder Kleinigkeit herumstreiten muss. Aus der Sicht Junckers wäre das ein Nachsitzen für den Ungarn, der seine Hausaufgaben nun gefälligst selbst erledigen sollte. Jagt er Regelverstöße auf EU-Ebene genauso selektiv, wie er das in Ungarn machen lässt, ist der Konflikt vorprogrammiert - Juncker mag genau diese Möglichkeit einkalkuliert haben und will Navracsics so zur EU-Regeltreue zwingen.

 

Master-Mind hinter Rechtstaatsabbau und "Verfassungsputsch"

Der Jurist Tibor Navracsics, geb. 1966 ist, auch wenn er sich den heutigen Gepflogenheiten in Ungarn gemäß, devot gibt ("Orbán hat seine Absicht bekundet, mich nach Brüssel zu entsenden")  nicht nur irgendeine Marionette, die Orbán als Statthalter seiner sich auf die Offenhaltung der überlebensnotwendigen Geldflüsse beschränkenden europäischen Interessen nach Brüssel entsendet. Der Ex-Justizminister des Landes, der das Außenamt im Mai nur als prestigereiche Zwischenstation auf seinem Weg nach Brüssel antrat, kann als Master-Mind hinter dem systematischen Demokratie- und Rechtsstaatsabbau in Ungarn gelten, der Orbáns Wunsch nach einem "Europa der Nationen", lies: Geldfluss, ohne Kontrolle, in Brüssel etablieren soll.

Navracsics war nicht nur einer der Mitverfasser der auch grundrechtswidrige, also gegen Artikel 2 der Lissabon-Verträge zuwiderlautende Paragrafen enthaltenden Ein-Parteien-
Verfassung, mit ihren die Handlungsfähigkeit künftiger Regierungen beschränkenden Kardinalsgesetzen und der Unterordnung ihrer Hüter unter die Parlamentsmehrheit, er ist auch der Initiator der zunehmenden Politisierung der Gerichtsbarkeit im Lande. Mit einer Staatsanwaltschaft, die mit aller Gründlichkeit Korruption, Amtsmissbrauch und sogar Taschendiebstahl verfolgt - so sie nicht von Mitgliedern der Regierungspartei begangen werden. Einer Staatsanwaltschaft, die sich dafür hergibt, im Parteiauftrag unbotmäßige NGO´s zu verfolgen und beständige Straftaten rechtsextremer Gruppen unter den Tisch fallen zu lassen, so dies aus taktischem Kalkül notwendig erscheint.

Nur mit großer Mühe konnte die EU einige der strukturellen Anmaßungen des Justizministers Navracsics, wie die
Zwangspensionierung von Richtern oder die ministerielle Zuweisung von Prozessen an ein Wunschgericht, statt dem gesetzlich zuständigen, rückgängig machen - praktisch änderte die formale Rücknahme dieser Maßnahmen jedoch nichts an der Umsetzung im gerichtlichen Alltag, auch die Parteipersonalien blieben aufrecht. Man bedient sich nun einfach anderer Begründungen, wie z.B. der Arbeitsüberlastung von Gerichten oder der Verfrachtung von ungeliebten Richtern in die Archivkeller. Letztlich zählte für den Justizminister, dass die Legislative der Exekutive (die in Ungarn eher eine Operative wurde) nicht mehr ins Handwerk - einschließlich der vielfältigen Raubzüge - pfuschen kann. Dafür wurde der legislative Rahmen geschaffen und der judikative entsprechend zurechtgeschnitten.

Bereiten sich auf neuen Schlagabtausch vor: Orbán und Juncker

Navracsics ist dabei immer ein Freund des kurzen Dienstweges gewesen und war einer der besonders eifrigen Minister, der sich bei der Umgehung des Parlamentes durch Last-Minute-Gesetze und ad-hoc-Änderungen sowie die exzessive Anwendung von "Dekreten" hervortat, der - laut Parlamentspräsident Kövér - "effektiveren" Art des Regierens. Navracsics lobt das als "intensive Gesetzgebung". Die EU-Institutionen führte er mit seinen "Kompromissen" als halbseidene Reaktionen auf die Proteste aus Brüssel erfolgreich ad absurdum.

Den ungarischen Beamtenapparat hat er mit Hilfe von Elementen der Willkür (pauschalen Kündigungen aus "Vertrauensverlust", Postenbesetzung ausschließlich nach Parteiloyalität, an Gehrosam geknüpfte "Karrieremodelle") sowie einer vollständig unter der Indoktrination der Partei stehenden "Universität des Öffentlichen Dienstes" unterworfen. Auch die rechtliche Absicherung der vom Innenminister exzerzierten unwürdigen Kommunalen Beschäftigungsprogramme für eine Viertelmillion Menschen, geht auf seine Kappe.

Vertreter des Orbánschen Antiliberalismus` und Geschichtsrevisionismus`

Nach außen ist Navracsics die treue Stimme seines Herrn, er promotet, ganz wie Orbán, Ungarn als Opfer fremder Mächte, das sich in einer moralisch-nationalen Selbstfindung gegen die Player der internationalen Finanzwelt und den "Liberalismus" behaupten müsse, von denen auch die EU ein Interessenvertreter ist, der nicht das Recht habe, sich in innere Angelegenheiten Ungarn einzumischen, - nur das Geld hat pünktlich auf dem Konto zu errscheinen, sonst handelt die EU nach "Doppelstandards" und "greift ungarische Familien an".

Auch den schon manisch betriebenen Geschichtsrevisionismus und das zwanghafte zurechtschnippeln der Welt in Freund und Feind teilt Navracsics, der von Orbán-Verstehern - wohl wegen seines Dr.-jur.-Titels, seiner geschraubten Sprache und der staatsmännischen Pose wegen - als eine gute Wahl behauptet wird.

In einem Interview mit "Die Welt" vom 5. September sagte er: "Ungarn hat schlechte Erfahrungen mit der Solidarität des Westens. 1945 und 1956 stand der Westen Ungarn nicht zur Seite, um uns vor Russland zu schützen." 1945? Der Interviewer, Boris Kálnoky, unterließ hier - wohl aus christlicher Nächstenliebe - drei unvermeidliche Nachfragen: Was hätte der Westen denn nach Meinung Navracsics` 1945 tun sollen, die Rote Armee überrennen? Noch mehr drängte sich schon jedem Schülerreporter die Frage auf, ob ihm Ungarns Zustand vor dem Einmarsch der Russen wohl lieber gewesen sein mag und was wohl den Hunderttausenden - sozusagen durch Zeitnot der Vernichter - geretteten jüdischen Landsleuten widerfahren wäre, wenn man noch ein paar Wochen auf die Amerikaner gewartet hätte, um Ungarn vor den Russen zu verschonen?

Und schlielßlich Drittens: Wenn Russland eine derartige potentielle Gefahr darstellt, vor der, so fürchtet Navracsics in obigem Interview, die EU Ungarn wohl wieder nicht schützen wird, wieso in aller "Welt", verpfändet Orbán dann sein Land mit einem Moskauer 10 Mrd. EUR-Kredit an Putin, wieso hinterläuft er (wenn möglich) die Sanktionen und wieso kopiert er Putins Regierungsstil und -inhalte? Jean-Claude Juncker und dessen Kollegen können sich schon einmal auf ein paar lehrreiche Geschichtsstunden mit Politkommissar Navracsics freuen, vielleicht mit dem Investigativmonster Kálnoky als Moderator.

Ablehung durch Opposition als "Dolchstoßlegende"

Beim Machtwechsel 2010 rief Fidesz den noch von den sozial-liberalen Vorgängern nominierten Kommissar László Andor, Soziales, zum sofortigen Rücktritt auf, denn er habe "keine Legitimation mehr" und vertrete als Abgesandter der Linken "nicht die nationalen Interessen". Wenig verwunderlich weigerte sich die linke Opposition jetzt, Navracsics als "ihren" Kommissar zu unterstützen, weil sie in ihm einen "selbst ernannten Kandidaten, der europäische Werte ablehnt" sehen. Das brandmarkte der Fidesz-Europaabgeordnete Tamás Deutsch als "Dolchstoß". Die ungarische Linke sei - "zusammen mit ein paar rechtsextremen Splittergruppen" - "die einzige Oppositionskraft in Europa, die ihren Kandidaten ablehnt". "Diese Handlung der Sozialisten ist gegen nationale Interessen gerichtet". Am Mittwoch wollen MSZP und DK eine genauere Erklärung vorlegen, was sie an Navracsics auszusetzen haben.

Orbán legt es auf ein erneutes Scharmützel mit der EU an

In dieser Woche will Juncker seine Personalliste abschließen, Ende September beginnen die Hearings der Kommissar-Kandidaten durch das Europäische Parlament, das "grillen". Es gibt nicht wenige Beobachter, die wieder einen pathetischen Schlagabtausch zwischen "Liberalen" (also allen, die nicht auf Orbáns Linie sind) und den ungarischen "Freiheitskämpfern" vorhersagen, ein Scharmützel, auf das es Orbán mit der äußerst politischen Nominierung geradezu anlegen könnte, um Juncker eins auszuwischen und Juncker in Navracsics einen Kandidaten vorfindet, der nicht mal von den eigenen Parteifreunden der EVP mit besonders viel Herzlichkeit getragen wird.

Das “Problem Ungarn” als Nagelprobe für Juncker

 

Es ist zu hören, dass den Schwesterparteien CDU, ÖVP ein unauffälligerer und formbarer Kandidat aus Budapest lieber gewesen wäre, um nicht zu viel Staub um das "Problem Ungarn" aufzuwirbeln. Ein Ansinnen, das jedoch Orbáns Wunsch und Wille, gar seinem Charakter nicht entspricht. Letztlich - das ist so sicher wie das Amen in der Kirche - wird die EVP in alter Nibelungentreue gegen die Sozis zu "ihrem" Kandidaten stehen. Denn Merkel - das hat sie seit viereinhalb Jahren gezeigt - will das "Problem Ungarn" einfach nicht wahr haben und hofft, dass ihm die kritische Masse fehlen wird, einen wirklichen "Skandal" zu entfachen. Denn einen EU-Kommissar aus rechtsstatlichen Bedenken und zur Abwendung von Schaden für die Gemeinschaft abzulehnen, dazu bräuchten EU-Parlament und erst Recht Juncker Eier - es wäre eine Präzedenz und ein Fortschritt für Europa. Der Rat der nationalen Regierungen wird diesen ebenso verhindern, wie das dringend notwendige Monitoring- und Sanktionssystem für die Grundwerte der Gemeinschaft.

Ein O-Ton Navracsics` in seinem Essay: "Ungarns Verfassung und die Kardinalgesetze als Vollendung der politischen, institutionellen und geistigen Erneuerung Ungarns"

red., m.s.

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