THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 34 - 2014   NACHRICHTEN   22.08.2014

 

Naiv und berechnend: Wie Ungarn sich durch die Krise in der Ukraine schaukelt - ein Überblick & KOMMENTAR

Ungarn betreibt in der Ukraine-Krise von Beginn an eine verwirrende Schaukelpolitik. Die Regierung versucht, einen möglichst unauffälligen Platz zwischen den Stühlen von EU, NATO, Russland, dem eigenen Nationalismus und den Wirtschaftsinteressen einzunehmen und sich so möglichst schadlos zu halten. Denn wie die Krise auch ausgeht, Ungarn sieht sich in der Pole-Position. Dass Orbáns Sympathien dabei klar seinem politischen Vorturner Putin gehören, führt immer wieder mal zu "Missverständnissen".

Premier Orbán 2010 mit Präsident Janukowtisch, 2014 gedachte Außenminister Martonyi den Opfern der Machtkämpfe zu dessen Ablösung

Der ungarische Minister für "Humanressourcen" (Bildung, Soziales, Kultur, Sport, Jugend), Zoltán Balog will sich am Wochenende auf eine Reise in die Ukraine mit Regierungsvertretern und Vertretern der ungarischen Minderheit treffen. An zwei Tagen wird der "Superminister" die Region Transkarpatien besuchen und dabei u.a. den amtierenden Gouverneur Valerij Lunchenko sowie den Präsidenten der Regionalversammlung, Wolodimir Smolanka treffen, außerdem Funktionäre der ukrainischen Ungarnpartei KMKSZ, den Rektor der Universität von Ushgorod sowie Lehrer und Gewerkschaftsvertreter zweier ungarischer Gymnasien in der Region.

Zu Beginn der Krise war der bereits der damalige Außenminister Martonyi in der Ukraine, im Westen wie im Osten. Ausrichten konnte er nichts, aber schon damals manifestierte sich die bis heute geübte Schaukelpolitik Budapests in diesem regionalen wie globalen Konflikt: Mit Ausbruch der Ukraine-Krise und dem Machtwechsel in Kiew kamen auch gewählte Kommunalvertreter, darunter Bürgermeister der ethnischen Ungarn (schätzungsweise 150.000 bis 200.000) unter Druck, - übrigens durch beide Konfliktparteien.

Einige wurden vom "rechten Sektor" abgesetzt, Versammlungen von Kommunalvertretern wurden gestört, es gab auch tätliche Angriffe, darunter eine Messerattacke auf einen am Majdan engagierten Kommunalpolitiker der Hungaro-Ukrainer. Ungarische Politiker machten sich für die Aufhebung des von der Übergangsregierung Jazenjuk verhängten Minderheitensprachverbotes stark und konnten dort - zusammen mit dem Druck aus der EU - wenigstens einen Teilerfolg erzielen, auch wenn der eher mit Rücksicht auf die Belange der großen "russischen Minderheit" zu Stande kam, die das nationalistische Kiew nicht alle auf einmal gegen sich aufbringen konnte.

Eine Zusammenfassung der Ereignisse bis März 2014 in: Unterwegs im Pulverfass

Die Orbán-Regierung erklärte daraufhin großspurig, "alles für den Schutz der Landsleute" tun zu wollen und verstärkte zunächst einmal die Grenztruppen. Orbán selbst nahm an einem Patrouillenflug entlang der Grenze teil und versuchte so Stärke zu demonstrieren, auch aus Kalkül gegenüber dem Wählerpotential der neonazistischen Jobbik, zweitstärkste politische Kraft im Lande, die eine Loslösung der (vor Trianon zu Ungarn gehörige) Karpatukraine und einen Anschluss an Ungarn "notfalls mit allen Mitteln" fordert und dafür nun eine günstige Gelgenheit sieht.

Orbán markiert den starken Mann und lässt sich die ungarisch-ukrainische Grenze entlang fliegen.

Während man sich offiziell zur "Linie" der EU bekannte und dabei stets die "Minderheitenrechte" ergänzte, irritierte, ja verstörte Kiew Orbáns Forderung nach einer "territorialen Autonomie" für die Karpato-Ungarn, die er als "legitim" ansieht. Die derzeitigen Machthaber erkannten darin doch eher eine indirekte Unterstützung der Forderungen Moskaus und russischer Separatisten im Osten des Landes, die ebenfalls "Autonomie- und Minderheitenrechte" fordern und waren ziemlich verärgert über den vorlauten Nachbarn. Die Regierung in Budapest versuchte dann, ihre Aussagen zu relativieren und schob nach, dass es "mehrere Abstufungen von Autonomie" gäbe und man das alles nur in europäischen Normen gemeint habe.

Ungarn verlangte in Kiew zudem kürzlich erneut eine "Ausnahmeregelung" für ethnische Ungarn bei der Einberufungspraxis der ukrainischen Armee für die Kämpfe im Osten des Landes, auch wegen stetig zunehmender Flüchtlingszahlen. Da viele Hungaro-Ukrainer durch die völkische Staatsbürgerschaftspolitik Ungarns einen ungarischen Pass besitzen, ist der Zuzug praktisch nicht zu steuern. Kiew muss ein Zugeständnis bei der Einberufung aus generalpräventiven Gründen natürlich ablehnen, wie aber zu hören ist, sind die Einzugsämter auf dem Lande relativ großzügig und flexibel was die Deklrationen zur "Wehrunfähigkeit" angeht. Ob dahinter politische Anweisungen oder nur die üblichen Bakschisch-Motive stehen, ist nicht dokumentiert. Es dürfte aber kaum ein Zufall sein, dass Ungarn
vorgestern ankündigte, 103 ukrainische KFOR-Soldaten im Kosovo abzulösen.

Zuletzt machten Gerüchte die Runde, wonach über 100 T-72 Panzer aus ehemaligen Beständen der ungarischen Armee an die Ukraine geliefert worden sein sollen. Das Verteidigungsministerium dementierte diese Lieferung brüsk, bestätigte jedoch den Verkauf von Militärgut, auch Panzern an "Dritte". Auch mochte die Honvéd-Führung nicht jedwede militärische Zusammenarbeit mit der Kriegspartei ausschließen. Im Mai irritierte man die Öffentlichkeit wie die Konfliktparteien mit der Meldung, wonach ein bewaffnetes Sonderkommando der Antiterroreinheit TÉK in der Ostukraine zu Gange sei, um eine Geisel zu befreien.

 

Orbáns Wirtschaftsminister Varga soll inzwischen nach Wegen, wenn nötig auch Sonderwegen, suchen, das Einfuhrembargo Russlands in direkten Gesprächen mit Moskau irgendwie zu umgehen. Täglich, so erste Schätzungen, verlieren Produzenten im Lebensmittelsektor rund 220.000 EUR, also 80 Mio. EUR im Jahr, wogegen man nicht nur EU-Hilfsquellen anzapfen will, sondern über das "gemischte" Russisch-Ungarische Wirtschaftskomitee nach Lösungen suchen will. Vor allem aber sollen, "die guten Beziehungen am Leben erhalten" werden, so Varga, der nun große Angst hat, dass Moskau womöglich auch einen Importstopp für Autos verhängt, was für die ungarische Wirtschaft den Super-GAU bedeuten würden.

Apropos GAU: Premier Orbán, der sich durch einen 10-Milliarden-Kredit aus Moskau für zwei neue Rosatom-Meiler in Paks und mehrere - zum Teil geheime - Wirtschaftsvereinbarungen, so stark an Russland gebunden hat, wie kein anderer Regierungschef Ungarns seit der Wende, kritisierte zuletzt die Sanktionen gegen Russland als "Schuss ins eigene Knie", lässt seine anderen Regierungsvertreter jedoch weiterhin die Bündnistreue zu EU und NATO kommunizieren.

Nicht erst seit diesen Aussagen sehen viele Beobachter in Europa Orbán zunehmend und - zugespitzt formuliert - als "Agenten Moskaus" an, der durch seine autokratische Politik nach innen und seinen populistischen "Unabhängigkeitskampf" gegenüber der EU ("das neue Moskau", Orbán) die Gemeinschaft schwächt und spaltet und damit Putins Agenda verfolgt, in der Hoffnung, seine Macht notfalls mit Hilfe von Kräften sichern zu können, die ihn nicht wegen Demokratie- und Rechtsstaatsabbau zur Rede stellen und mit Mittelentzug bedrohen werden.

Dass die Sanktionen und die “Linie” (welche Linie?) der EU in der Ukraine-Problematik dennoch falsch sein könnte, steht auf einem anderen Blatt, hat aber nichts mit der Rolle Ungarns darin zu tun. Denn: Im Grunde ist Orbán der Ausgang der Ukraine-Krise völlig egal. Wird das Land an die EU angenähert (Orbán versuchte sogar Janukowitsch diese Idee schmackhaft zu machen), sieht sich Ungarn durch die unmittelbare Nachbarschaft und den "ethnischen Faktor" im Vorteil. Gewinnt Russland wieder die Oberhand, glaubt man sich durch seine devote Haltung, den Atomdeal etc. in der Vorderhand.

Das ist nicht nur eine auffällig naive, ja infantile Prinzipienlosigkeit Orbáns, der einst die "Sowjets" - so jedenfalls seine Legende - aus dem Land jagte und täglich die "Freiheitsliebe" seines Volkes feiert, für die eigene Machtsicherung sich aber schamlos an den Meistbietenden verkauft, sondern - mit Blick auf den Ausgang der Schaukelpolitik seines anderen politischen Vorbilds Horthy - auch eine brandgefährliche Hypothek für sein Land, das - auch - wegen der Machtgier und Bündnispolitik seiner Regierenden nicht nur einmal zwischen den Großmächten zerrieben wurde.

red. / cs.sz.

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