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(c) Pester Lloyd / 50 - 2014   POLITIK   13.12.2014

 

Eskalierendes Szenario: 10% Flat tax für Unternehmen in Ungarn - ein Offenbarungseid

Finanz- und Wirtschaftsminister Varga hat wieder einmal die Idee einer vereinheitlichten, sehr niedrig scheinenden Körperschaftssteuer für Unternehmen in Ungarn ventiliert. Was als profitable Idee aus der Hexenküche des Neoliberalismus für viele Unternehmer zunächst einladend klingen müsste, ist bei nährerer Betrachtung der Gesamtlage nicht viel mehr als panische Marktschreierei einer Ökonomie im Schlussverkauf. Uns ist sie Anlass für eine Brachialanalyse.

Erkennt er die Zeichen der Zeit?   Fotos: MTI, Montage: PL

 

Was bisher geschah...

Sein Ministerium arbeite derzeit daran, die Möglichkeiten einer Einführung für das Jahr 2018 zu prüfen, anvisiert werde dabei eine Rate von "um die 10%" auf das Betriebsergebnis, unabhängig von dessen Höhe, also eine Flat tax. Natürlich hänge die Einführung von der ökonomischen Performance ab, relativierte Varga bei einer Konferenz in Debrecen am Freitag.

Bereits 2010/11 senkte man die Körperschaftssteuern auf 19%, ab einer positiven Steuerbasis von 500 Mio. Forint (ca. 1,6 Mio. EUR), darunter liegt sie schon heute bei 10%. Für Klein- und Kleinstunternehmen gibt es mit KIVA und KATA Pauschalabgeltungsvarianten (ähnlich der früheren EVA), in der neben der Besteuerung auch Beiträge in die Sozialkassen und andere Abgaben inkludiert sind. Die "Putzfrauen-Bt." hält sich in Ungarn hartnäckig, wofür es viele (schlechte) Gründe gibt, doch die generierten Steuereinnahmen daraus, sind nicht staatstragend.

Vordergründiges Ziel der "unternehmerfreundlichen" (eigentlich vermögensfreundlichen) Änderungen war die Stimulierung der heimischen Wirtschaft sowie die Motivation von Investoren, zu bleiben oder zu kommen. Arbeitskosten und Unternehmertum sollten gefördert werden, höhere Steuern auf den Konsum die reduzierten Steuereinnahmen ausgleichen. Eine Rechnung, die jedoch nur aufgeht, wenn die budgetäre Balance gewährt würde und ein stabiles, reales Wirtschaftsumfeld vorherrscht, Wachstum aus eigener Kraft geschieht, konsumiert wird.

Die Armen zahlen den Reichen die Geschenke

Bereits mit der schrittweisen Einführung der Flat tax auf Einkommen von 16% in den Jahren 2010 bis 2012, wurde immer wieder über die Option gesprochen, die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Ungarn, vor allem gegenüber regionalen Konkurrenten, also Slowakei, Rumänien, Polen, Tschechien, zu erhöhen.

Die Auswirkungen der Einkommens-Flat-Tax sind bekannt: Millionen Geringstverdiener verloren ihre Freibeträge, zwei Dutzend direkte bzw. indirekte Verbrauchssteuern mussten erhöht werden, um die Steuerausfälle aufzufangen, d.h. die unteren Schichten bezahlen die teils zweistelligen Steuerwohltaten der Besserverdiener und Unternehmen. Eine klassische, ständestaatlich motivierte Umverteilung von Unten nach Oben fand statt. Die in Ungarn dramatisch wachsende Verarmung, die selbst nach den laschen
Eurostat-Parametern bereits mehr als ein Drittel der Bevölkerung erfasst hat, setzte ein, heute wächst in der EU nur in Griechenland die Armut schneller als in Ungarn. Nach dem konsumierbaren Einkommen findet sich Ungarn mit Rumänien, Bulgarien und Kroatien weiterhin im Armenhaus Europas.

Gewünschte Effekte traten nicht ein

Doch der Effekt, dass die Unternehmen mehr investieren, also auch Leute einstellen, so dass der Plan hinter dem "System" greifen könnte, trat nicht ein. Die Lohnnebenkosten blieben, im Verhältnis zur Lohnhöhe und zur Produktivität mit die höchsten in Europa. Das führte dazu, dass die unteren Lohngruppen weiterhin nicht über den gesetzlichen Mindestlohn (Brutto 100.000 HUF, netto um die 66.000 HUF, rund 220.- EUR) hinauskommen und sogar bei diesem vermehrt auf Teilzeit angestellt werden, ob das nun dem tatsächlichen Arbeitsverhältnis entspricht oder nicht. Der heimische Klein- und Mittelstand kann sich neue Jobs oder reale Anstellungsverhältnisse nicht leisten.

 

Branchensondersteuern, Spezialabgaben unter der Losung der "Teilung der Bürden der Krise" und des Verhinderns des Abzugs von "Extraprofiten" aus Ungarn, eine noch sprunghaftere, unberechenbarere Gesetzgebung als unter den Vorgängern und vor allem auch die politische Unwägbarkeit im Hinblick auf retroaktive Eingriffe in Vertrags- und Eigentumsrechte u.a. in der Energie-, Finanz-, Telekom-, Handelsbranche, würgten Investitionen ab, Kapital wurde und wird massiv aus Ungarn abgezogen. Orbáns "unorthodoxe" Politik hat das Land nicht attraktiver, sondern es zum Risikoland für Investoren gemacht.

Um nicht völlig den Boden unter den Füßen zu verlieren, hofierte Orbán das produzierende Gewerbe mit Staatsbeihilfen (Steuerrabatten) und einem "situationselastischen" Arbeitsrecht. Diese Konzerne, in Ungarn vor allem die deutsche, japanische Autoindustrie, die Fertigung von elektronischen Bauteilen und andere "Werkbank"-Branchen, die jederzeit weiterziehen könnten, nehmen das gerne an und fordern immer mehr.

Politisch-ökonomische Kuhhandel mit "strategischen Partnern"

Und so kann der Ex-CDU-Karrierist und heutige ”Außenminister” der Daimler AG, von Klaeden, auch
nach Ungarn kommen und bei Orbán ernsthaft und direkt um die Senkung der Körperschaftssteuer für Autohersteller auf 10% ansuchen. Ein Ansinnen, dass wohl im Februar, im Umfeld von Merkels Besuch in Budapest gegen eine Verlängerung der EVP-Rückendeckung in politischen Auseinandersetzungen mit der EU finalisiert werden wird, genauso wie eine "Lösung" des RTL-Problems mit der Werbesteuer, so wie zuvor die Überzahlung beim Abkauf der E.ON-Gastöchter politischer Natur war und die Übernahme der (Schulden der) MKB durch den ungarischen Staat. Dementis und Gegendarstellungen begründeter Natur sind hier von den Involvierten willkommen, werden aber wohl weiter ausbleiben, denn diese Gaunerstücke á la Gazprom light auf dem Rücken der Bevölkerungen sind die nackte Realität, nicht nur in Ungarn, - der Dominanz "nationaler" Regierungen multinationaler Konzerne über die Intentionen und die nominalen Ziele der EU sei "Dank".

(In ungarischen Medien sickerte bereits die Besuchsagenda für die Merkel-Visite am 2. Februar 2015 durch. Hier bei HVG. Man ist der Meinung, sie wird - sobald die Türen zu sind - Klartext reden. Welche Hoffnungen sich die Ungarn wirklich machen können, teilen wir hier mit: Mutti kommt!)

Creative Design” selbsternannter Halbgötter

Warum Orbán derart stur und unberechenbar agierte und sein (ja, er denkt, es gehört ihm) Land ständig am Rand der Katastrophe entlangführt, ist recht schnell erkärt. Als beratungsresistenter und dazu ökonomisch dilettantischer Sonnenkönig steht ihm die Durchsetzung des politischen Willens zur Erreichung eines Ideals stets über einer auf Fakten und Möglichkeiten ausgerichteten Vernunft. Nicht nur in der Ökonomie.

Doch gerade diese entzieht sich am mathematischsten dem "creative design" selbsternannter Halbgötter: Zentralisierungs- und Verstaatlichungsbestrebungen, Prestigprojekte und Klientelpolitik, Wahlgeschenke und ein gigantischer staatlicher Arbeitsmarkt haben ihren Preis, den das ungarische Budget nie tragen konnte. Orbán baute allein auf die Hoffnung, dass das Wachstum in Deutschland stabil bleibt und die internationale Konjunktur nicht völlig einbricht. Er konnte ja auch kaum die von den Apologeten des Neoliberalismus (IWF, Weltbank, EU etc.) verlangten Strukturreformen umsetzen, wenn er diese als die Feinde der Nation brauchte.

Staatsterrorismus: Korruption in "systemischen" Ausmaßen

Ebenfalls unkalkuliert und unkalkulierbar sind die Ausfälle durch Korruption und Amtsmissbrauch, die man nicht mehr als Streuverluste bezeichnen kann, sondern die als existenzbedrohlich quali- und quantifiziert werden müssen. Wir haben seit "Lehman" gelernt, dass alles was "systemisch" ist, nicht zerschlagen werden darf, sondern "gerettet" werden muss. Nun denn. Eigentlich ist das finanzieller Staatsterrorismus mit den Steuerzahlern als Opfer, allerdings wählen die Opfer hier ihre Schlächter immer noch selber. Bis jetzt. Denn die von Orbán sorgsam gemalten und gepflegten Feindbilder kollabieren allmählich angesichts der Realität, die zu immer mehr Ungarn durchdringt. (In und unter
diesem Beitrag finden Interessierte die einschlägigsten Links zu dem komplexen Thema.)

Politischer Spielraum sinkt: Panik und Fehlerquote steigen

In Summe steht Ungarns Staat schuldenmäßig (Nettoschuldenrekord) und sozial heute viel schlechter da als jemals seit der Wende, damit sinkt auch der Spielraum der Politik, womit die Panik und damit die politische Fehlerquote zwangsläufig steigt und mit allerlei gefährlichem Unfug kompensiert wird. Hochrisiko-Aktionen wie das 12,5 Mrd.-EUR-Projekt des
AKW-Ausbaus (mit einem russischen 10 Mrd. EUR-Kredit) prolongieren das Problem in die kommenden Jahrzehnte. Das Land wäre schon jetzt ohne die EU-Milliarden, die allein 2015 7,5% des BIP tragen, ökonomisch nicht mehr lebensfähig. Und selbst diese bisher nie ernsthaft in Frage gestellte, ständig sprudelnde Quelle gerät allmählich in Gefahr.

Der gerade zum Beschluss vorliegende Haushalt 2015 ist ein Flickenteppich aus Löcherstopfen und sturer Fortsetzung der Ständepolitik sowie dem Auslagern von Schulden in staatliche Unternehmen und der weiteren Umverteilung gesellschaftlichen Vermögens in private Hände.

Chimäre "Arbeitsgesellschaft"

Orbán brüstet sich seiner neuen "Arbeitgesellschaft" als Tribut an eine "neue Weltordnung", die gefälligst Europa "zum Vorbild dienen soll" und die dazu führen wird, dass bald über 5 Mio., statt zuvor knapp 3 Mio. Menschen "steuerpflichtig" sind. Dass die meisten und immer mehr heute ihr versteuerbares Einkommen aus Steuern erhalten (700.000 öffentlicher Dienst + 250.000 Kommunalbeschäftigte) oder Steuerzuschüssen (Arbeitsplatzschutzprogramme, 2014 für 800.000 Stellen), davon aber nicht leben können, ihnen aber dennoch der "Konsum", also auch die Existenz Jahr für Jahr verteuert wird (Nebenkostensenkungen inbegriffen), ist ein Teufelskreis in den sozialen Abgrund.

Extremisten als Machtoption

Die Qualifiziertesten entziehen sich diesem (und dem Bildungsabbau und der Gängelung in allen Lebenslagen) durch Auswanderung, rund 550.000 Menschen gingen binnen vier Jahren diesen Weg, was für Ungarn nicht nur momentane Steuerausfälle bedeutet, sondern die Zukunft des Landes gefährdet. Wer nicht geht, weil er nicht kann, gibt auf oder radikalisiert sich. Aktuell mögliche 27%+ für Jobbik in Wahlumfragen machen diese neonazistische Partei zu einem Machtfaktor und damit einer Machtoption, die sich Fidesz durch taktisches Kalkül von Anfang an offen hielt. Es dürfte bekannt sein, dass "Nationalkonservative" keine Hemmungen haben, Nazis als Retter in der Not einzusetzen, um ihr System am Laufen zu halten.

Friedlicher Ausweg oder Eskalation?

Ob die derzeitig erstarkende, parteiunabhängige
Bürgerbewegung perspektivisch die Kompetenzen und Kräfte bündeln kann, um Ungarn einen Ausweg in eine europäische Normalität zu ebnen, ist heute noch gänzlich offen. Man ist noch in der Phase, sich darüber zu einigen, was man nicht mehr will, aber weit davon entfernt, eine plausible Perspektive zu etablieren.

Ein eskalierendes Szenario wird damit wahrscheinlicher, - auch, weil die Fidesz-Gang schlicht zu viel zu verlieren hat und auch, weil der Abbau von Kontroll- und Schutzmechanismen der Demokratie und des Rechtsstaats, also das zivilisatorische Auffangnetz, Löcher von der Größe des Plattensees hat. Die nächsten regulären Wahlen sind in dreieinhalb Jahren, das könnte zu lang sein für einen friedlichen Machtwechsel.

Plumpes Täuschungsmanöver aus Panik vor dem Kollaps

Doch zurück zum Thema. Vielleicht erscheint diese Brachialanalyse für die Betrachtung einer einfachen Steuersenkung für Unternehmen etwas zu groß, zu pathetisch. Doch das ist sie nicht. Denn diese 10% sind ein Zeichen, ungefähr so eines, das man in den Fenstern des Amsterdamer Rotlichtviertels auch sehen kann. Aber mehr noch, sie sind ein Hilferuf, ein Ausverkaufsschild, die Präambel zum Offenbarungseid.

Die Panik vor einem finanziellen Kollaps des "System Orbán" ist mittlerweile so groß (und die Diskrepanz zu den gemeldeten "Wachstumserfolgen" könnte kaum größer sein), dass man alles, wirklich alles tut, um Hoffnung, Vertrauen, Verlockung zu kommunizieren, um irgendwie Kapital ins Land zu ziehen bzw. zu halten. Eine Panik übrigens, die sich im politischen Bereich mit sprunghaft steigender, plumper Verlogenheit fortsetzt (Maut, Drogentests, Lex CBA usw.) und den beginnenden Kontrollverlust ihro Majestät beschleunigt, den man auch an der zunehmenden Pampigkeit gegenüber dem aufsässigen Mob gut ablesen kann.

Die vergangenen viereinhalb Jahre haben gezeigt, dass die (Steuer)Versprechen subtanzlos, unerfüllbar, für die Firmen in Summe ein Fake und für die Gesellschaft ein Verlustgeschäft sind, damit sind sie als singuläre Maßnahme nicht nur unsinnig, sondern un-, ja regelrecht asozial. Ungarn braucht keine Steuersenkung, Ungarn braucht einen neuen Steuermann, neue Segel, eine neue Crew, ein neues Schiff, einen anderen Kurs, - ja sogar ein anderes Gewässer...

red. / m.s.

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