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(c) Pester Lloyd / 37 - 2012   WIRTSCHAFT 13.09.2012

 

Wirtschaftswunderwaffe

Ungarn ordnet Vollbeschäftigung an und kreiert Voodoo-Budget

Dem IWF macht es Ungarn wahrlich nicht leicht: Fast täglich ändern sich die Maßgaben für den Haushalt. Vielleicht ist die Verwirrung auch gewollt. Sei es durch Rechenfehler oder Fehlschätzungen, plötzliche Eingebungen des Premiers oder den irgendwann unvermeidlichen Zusammenprall von Wunsch und Wirklichkeit, wie aktuelle Steuerdaten zeigen. Der 10-Punkte-Plan soll alles richten: Minister Matolcsy kündigt "Vollbeschäftigung" und die "Abschaffung der Arbeitslosigkeit" binnen Jahren an und will mehr Arbeitsplätze schaffen als es erwachsene Einwohner gibt. Weiß er mehr als wir?

“Wir machen das!” - Premier Orbán und Nationalwirtschaftsminister Matolcsy von ungarischen Bloggern in Retro-Klassenkampfpose gesetzt...

Rechenfehler, Fehleinschätzungen, Wunschdenken

 

Es hatte sich schon vor Monaten herausgestellt, dass auch der Budgetentwurf 2013, der noch Ende September Gesetzesrang erlangen soll, wieder ein auf überzogenen Hoffnungen fußendes Flickwerk, gespickt mit unvorhersagbaren Posten und Risiken werden wird. Das liegt zum einen an den realitätsfernen makroökonomischen Eckdaten, also BIP-Wachstum, Inflationsprognose, Arbeitsmarktzahlen, Forintkurs, auf denen die Berechnungen zum Teil beruhen und die sich den polit-ökonomischen Wunschvorstellungen der Regierung unterzuordnen haben. Es gab nicht eine einzige Schätzung in den letzten zwei Jahren, in der die Regierung richtig gelegen hätte.

Ein sehr treffendes Beispiel dieser Unterordnung war die jüngste Zinsentscheidung der Zentralbank, bei der die von Fidesz entsandten externen Währungsratsmitglieder eine Leitzinssenkung gegen die ökonomische Vernunft und gegen den professionellen Vorstand der MNB durchpeitschten, und das mit Ansage. Während alle Experten vor einem Preisschock auf dem Lebensmittelmarkt und damit verbundenener steigender Teuerung (jetzt schon bei über 6% aufs Jahr) warnen und der Forint auf jeden Lufthauch mit panischen Ausschlägen reagiert, die sämtliche Forex-Schuldner weiter in den Ruin treiben, setzen die Regierungsökonomen emotionslos Orbáns Vorgaben um, kosten sie, was sie wollen.

Zum anderen aber liegt die Inkontinenz des Budgets auch an echten Fehlern, wie der doppelten Verbuchung der Finanztransaktionssteuer, den auch die Zentralbank zahlen soll, was - außer bei Minister Matolcsy - ihren ans Budget abführbaren Gewinn verringern muss, einer völligen Fehleinschätzung des einholbaren Steuervolumens aus "Effektivierung der Eintreibung".

Und nicht zuletzt leidet es unter der Sprunghaftigkeit der Regierung und ihres Chefs, der, erscheint es ihm politisch opportun, ohne mit der Wimper zu zucken ein 300-Milliarden-Forint teures Arbeitsplatz-Schutzprogramm auflegt, weil man bemerkte, dass die bisher gesetzten Schritte zur "Mittelstandsförderung" alles brachten, nur keine Arbeitsplätze und kein Wachstum. Das Geld muss nun in aller Hektik durch "Reserven", Zusatzposten und "Umschichtungen" freigeräumt werden, was die Kalkulationen im Budget noch weniger seriös macht als zuvor. Die einzige unveränderliche Größe soll das Defizit von unter 3% des BIP sein, alles andere ist laufenden Veränderungen unterworfen.

Das Arbeitswerkzeug des Finanzministers?

Einführung der dreifachen Buchführung

IWF und EU verlangen ein "nachhaltiges und strukturell sinnvolles" Budget, Ungarn glaubt, dieses geliefert zu haben, doch beide meinen damit etwas vollkommen anderes. Der Abbau der Staatsbürokratie wird zwar auch von der Regierung postuliert, ist aber durch die Neuübernahme der meisten Aufgaben der Komitate und einiger der Kommunen sowie durch den Anspruch in "strategischen Wirtschaftszweigen"
bis hin zur Endversorgung mit Energie und den Kommunaldiensten mitmischen zu wollen, schlechterdings nicht umsetzbar, im Gegenteil, der Wasserkopf "budgetärer Institutionen" wird weiter wachsen und mit ihm der Zahl durch Steuermittel finanzierter Angestellter, auch wenn sie nicht mehr offiziell im öffentlichen Dienst geführt werden.

Woher Orbán in diesem Umfeld das Geld für einen Milliarden-Rückkauf der E-ON-Gastöchter, den Aufbau eines staatlichen Mobilfunknetzes und andere Abenteuer nehmen will, ist sein Geheimnis, das aber der IWF lüften will, bevor Geld fließen kann.

Neben den konträren Auffassungen zwischen IWF und der ungarischen Regierung über die Lenkung der Wirtschaft, wie sie in der mysteriösen "Todesliste" an die Öffentlichkeit gelangten, also grob gesagt, dem Kampf zwischen Pseudo-Neoliberalismus und etatistischem Paternalismus, neben den Fragen nach dem Sinn von Rückverstaatlichungen , der Unabhängigkeit der Zentralbank, der Regulierung bzw. Gängelung des Bankenwesenes, des Abbaus oder der Umschichtung von Sozialleistungen und der Verkleinerung des Verwaltungsapparates, werden die im Oktober fortzuführenden Verhandlungen um die Milliardenhilfen vor allem von einem Thema dominiert: die abenteuerliche Haushaltsführung der Ungarn.

500 Milliarden Verlust durch Einkommenssteuer

Im ungarischen Voodoo-Budget agiert man praktisch mit dreifacher Buchhaltung, zu Soll und Haben gesellt sich noch das Wollen. Das größte Hindernis für den Abschluss einer Kreditvereinbarung mit dem IWF bleibt der Umstand, dass die Verhandlungspartner nicht mit Zahlen, sondern mit Wunsch- und Schätzgrößen agieren. So macht man Verhandlungen geradezu unmöglich. Zeitgleich beraubt sich der Staat wichtiger Einnahmen, wie die neuesten Zahlen zur Einkommenssteuer durch das Finanzamt NAV belegen.

Danach entgingen dem Haushalt durch die 16%ige Flat Tax auf alle Einkünfte schon 2011 direkt 279 Milliarden Forint (fast 1 Mrd. EUR bzw. 1% des BIP). Das Aufkommen betrug insgesamt noch 1.194,2 Mrd. Forint, war also um fast ein Viertel geringer als 2010. Doch 2011 galt noch das Superbrutto als Berechnungsgrundlage, d.h. 100% der arbeitgeberseitigen Abgaben wurden auf die Steuerbasis aufgeschlagen, in diesem Jahr nur noch 50% ab dem kommenden Jahr 0%, was die Steuerbasis und damit die -einnahmen weiter verringern muss.

Die Lohnsteuerreform hat nur die Besserverdiener entlastet

Nicht eingerechnet sind in dieser Bilanz die weiteren Milliardenausfälle durch (höchst bürokratisch und lohndikatorisch umgestzte) Kompensationszahlungen an diejenigen Arbeitnehmer, die durch diese "Steuerreform" weniger ausgezahlt bekamen als zuvor, was ausschließlich die untersten Einkommensschichten betraf, in der Privatwirtschaft ebenso wie im öffentlichen Dienst. Zusammen entgingen dem Staat so rund 500 Mrd. Forint, wovon rund die Hälfte nichts weiter als eine Umverteilung für die Besserverdiener darstellt, die so teilweise Einkommenszuwächse von über 30% mitnehmen konnten.

Im Schnitt zahlte jeder steuerpflichtige Ungar im Vorjahr 13,7% seines Einkommens als Lohn- bzw. Einkommenssteuer, 2,5 Prozentpunkte weniger als im Jahr zuvor. Das nennt die Regierung eine Entlastung, verschweigt dabei aber, das die Geringverdiener zuvor überhaupt keine oder nur marginal Steuern zahlten, eben, weil sie so schon fast nichts zum leben hatten. Entlastet wurden sie also keineswegs. Hier mehr zur Entwicklung der Einkommen in Ungarn.

Hochtoxisches Umfeld für KMU

Dass die Flat tax angesichts des fehlenden Wachstums und in einem für kleine und mittelständische Betriebe hochtoxischem Umfeld aus Kreditklemme, Steuererhöhungen und fehlenden Investitionsimpulsen bei gleichzeitig völliger Unberechenbarkeit der Politik, ein Fehler war, unabhängig davon, dass sie per se ungerecht und asozial veranlagt ist, will man in Budapest nicht einsehen. Das sogenannte "10-Punkte-Programm zum Schutz und zur Schaffung von Arbeitsplätzen" ist eine logische, wenn auch falsche Schlussfolgerung aus dieser fiskalpolitischen Fehlentscheidung und treibt die Regierung immer weiter in die tödliche Spirale sinkender Steuereinnahmen, ohne dafür entsprechende Wachstums- und Arbeitsplatzaussichten zu bekommen.

Matolcsys Aussagen erinnern an Wunderwaffen-Rhetorik

Wie groß die Verzweiflung im Finanz- und Wirtschaftsministerium mittlerweile ist, zeigt die aktuellste Aussendung des Ministers Matolcsy, der das Projekt seines Chefs auf einer Pressekonferenz mit einem Imperativ ankündigte, der an die deutsche Wunderwaffen-Rhetorik vor bald 70 Jahren erinnert: Zunächst rechnet Matolcsy die 300 Milliarden Forint, die das Programm zur Reduzierung der Arbeitgeberabgaben kosten wird, falsch um und meldet 105 Mio. EUR, statt der 1,05 Milliarden, die es tatsächlich sind. Das ist peinlich, geradzu albern wird aber die Ansage, dass Ungarn in den nächsten Jahren "die Vollbeschäftigung erreichen wird."

Arbeitsplatzziel nur durch Kinderarbeit oder Krieg erfüllbar

Allein Orbáns 10-Punkte-Programm, das im wesentlichen eine Befreiung der Arbeitgeber (und nur der Arbeitgeber) für je 6 Monate von den Lohnnebenkosten für die Einstellung von besonders jungen und besonders alten, benachteiligten, wenig qualifizierten und behinderten Menschen oder gewordenen Müttern vorsieht, "wird 1,5 Millionen Arbeitsplätze schaffen", ist sich Matolcsy auf einer Pressekonferenz am Dienstag sicher.

Bis 2020 aber werde es "wie es der Ministerpräsident gesagt hat, 5-5,5 Millionen neue (!) Arbeitsplätze geben". Ungarn hat heute 3,6 Mio. gemeldet Beschäftigte, das sind rund 54% der arbeitsfähigen Bevölkerung. 5,5 Millionen zusätzliche gingen sich schon rein demographisch nur mit Kinderarbeit ab drei Jahre oder durch die Eroberung der Slowakei oder von Teilen Rumäniens aus, aber bis 2020, erinnern wir uns, gab es dahingehend ja auch einige Pläne. Vielleicht weiß Matolcsy einmal mehr als wir...

Möglicherweise trägt auch der aktuelle Ordnungsruf eines Fidesz-Politikers im Parlament zu einem demographischen Sprung bei, als er in einer Nachtsitzung meinte, Frauen sollten lieber Kinder gebären statt zu arbeiten, dann würde auch die häusliche Gewalt sinken. Hier mehr dazu.

Matolcsy könnte 5,5 Mio. Arbeitsplätze ingesamt bis 2020 gemeint haben, was annähernd Vollbeschäftigung darstellte und uns wieder an das zwischenzeitlich togeschwiegene Wahlversprechen von "1 Million neuer Arbeitsplätze binnen 10 Jahren" erinnert. Doch es wird noch besser: die Arbeitslosigkeit wird in den kommenden 2-5 Jahren schlicht abgeschafft, denn "alle 495.000 registrierten Arbeitslosen werden in den nächsten 2-5 Jahren auf dem Arbeitsmarkt oder im Rahmen kommunaler Beschäftigungsprogramme einen Arbeitsplatz erhalten.", so Matolcsy.

Diese angesprochene Közmunka, für die extra der Mindestlohn außer Kraft gesetzt wurde, Stammleser sind im Bilde, für alle anderen hier nochmal das wichtigste dazu, müsste dann aber nicht mehr nur für Sozialhilfeempfänger, sondern eben für alle Arbeitslosen ab dem ersten Tag gelten, sonst geht Matolcsys Rechnung nur sehr schwer auf.

Orbáns Logik erinnert an Ulbricht und Breshnew

Arbeitsplätze schaffen per Dekret, das versucht diese Regierung schon seit zwei Jahren und wie selbst die offizielle Statistik bewiesen hat, ohne jeden Erfolg. Binnen Jahresfrsit reduzierten sich die Arbeitsplätze in der freien Wirtschaft um 30.000, neue “Jobs” werden nur in der Közmunka geschaffen, zählen also volkswirtschaftlich nicht, im Gegenteil.

Dass sich die Wirtschaft, der Markt, nicht an die Regierungsvorgaben halten, sondern an die Regeln des Marktes, hat die Konsequenz, dass die Regierung sich Wirtschaft und Markt Untertan machen muss, um die eigenen Regeln durchzusetzen. Das ist die Logik des Kabinetts Orbán-Matolcsy, so wie es schon die Logik der Kabinette Kádár, Ulbricht-Honecker und Breshnew war, mit bekanntem Ausgang, nämlich, dass das Volk 1989/90 in einer Art außerordentlichen Hauptversammlung den kompletten “Vorstand” zum Teufel jagte.

Der IWF kann Ungarns Krisen nicht lösen - muss es aber auch nicht

 

Wie die Krisen seit 2008 gezeigt haben, ist auch das andere Projekt gescheitert, das eines von der Realwirtschaft abgehobenen unkontrollierten Finanzmarktes, der durch Spekulation und Gier einen Takt vorgibt, den kein Land, kein Volk, keine wirkliche Wirtschaft lange halten kann, ohne sich zu ruinieren. Orbán hat die Notwendigkeit einer Umkehr erkannt, ist aber aufgrund seiner eingebildeten Vorsehung und seiner mangelnden fachlichen Kompetenz (auch der vieler seiner Berater) vollständig unfähig, einen vernünftigen Mittelweg zu finden, in der Wirtschaft wie in der Politik.

Er kann Ungarns Probleme ebenso wenig lösen wie der IWF, er ist aber, im Unterschied zum IWF, dazu verpflichtet. Doch stattdessen posaunte der Regierungschef gestern wieder, dass es ihm relativ egal ist, ob es noch im Herbst oder erst im Frühjahr zu einem Abschluss mit dem IWF kommt, schließlich "belaufen sich Ungarns Devisenreserven auf knapp 35 Milliarden Euro", Orbán fühlt sich offenbar unverletzlich. 100 Milliarden Forint, so haben es Experten ausgerechnet, könnte sich Ungarn direkt und sofort an Zinsen für den Schludendienst ersparen, geht der Deal noch in diesem Jahr über die Bühne. Doch Orbán meint: "Das haben wir nicht nötig".

cs.sz. / ms. / mb. / eg. / red.

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