THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 45 - 2013   WIRTSCHAFT   06.11.2013

 

Fragiles Wachstum, lauernde Schuldenfalle

Die Herbstprognose der EU-Kommission für die Wirtschaft in Ungarn

Die Schätzungen der EU-Kommission hinsichtlich der Wirtschafts- und Defizitentwicklung weichen nur unwesentlich von den Vorgaben der Regierung ab, doch die Staatsschuldenquote könnte sich, aufgrund einer politisch motivierten Ausgaben- und Schuldenpolitik wieder auf über 80% des BIP erhöhen, es droht einer neuer Schuldenrekord. Der Wachstumsmotor stottert dabei mehr als er surrt, das fehlende Grundvertrauen schreckt vor allem den Mittelstand von Investitionen ab. Ungarn bleibt weit entfernt davon, auf “eigenen Beinen” zu stehen.

Die EU-Kommission stellt in ihrer am Dienstag präsentierten Herbstprognose das erwartete Defizit für Ungarn auf 2,9% des BIP in diesem Jahr, auf 3% für 2014, die Regierung setzt diese Marken bei 2,7% und 2,9%, hinsichtlich eines erneut drohenden Defizitverfahrens kann Budapest also zunächst beruhigt sein, auch wenn der Manövrierraum fast bei Null liegt.

Die BIP-Entwicklung in Ungarn seit 2002. Wie zu sehen, übernahm Orbán das Land in einer milden, aber stetigen Wachstumsphase, die man zunächst zur Stagnation, dann zu einer fünfmonatigen Rezession abwürgte. Von da kann es ja praktisch nur noch bergauf gehen, doch die Vorkrisenwerte sind weit, weit weg...

Die BIP-Prognose für Ungarn lässt hoffen, ruht aber im wesentlichen auf der anhaltenden Wirtschaftskraft Deutschlands und setzt ein ruhiges globales Umfeld voraus: die 0,7% für 2013 bedeuten absolut noch immer einen Wert deutlich unter dem Stand 2010, allerdings soll das Wachstum 2014 um 1,8%, 2015 um 2,1% anziehen, womit Ungarn - inflationsbereinigt - beim BIP ungefähr auf dem Stand angekommen wäre, wo Orbán es 2010 vorgefunden hatte. Und das war in einem Aufwärtstrend, den er jedoch - entgegen der verbreiteten Legende - erfolgreich abwürgte, um 2012 - gegen den allgemeinen Trend in der Region und in Europa - in einem Rezessionsloch zu landen. Dass es aus diesem leichter ist, in diesem und dem kommenden Jahr wie ein Phönix aus der Asche zu wirken, liegt vor allem auch im Wesen der Mathematik, weniger an der tatsächlichen Performance der Wirtschaft.

Die BIP-Prognose der EU-Kommission, von MTI sogleich in ein optimisierendes Balkendiagramm gegossen.

Neuer Schuldenrekord am Jahresende?

Aufgrund einiger Wahlgeschenke, wie vermögens- und einkommensunabhängige Steuerfreibeträge für Familien mit Kindern sowie die Energiepreissenkungen, die auch Gruppen zu Gute kommen, die sie wirklich nicht nötig hätten sowie durch den selbstauferlegten Refinanzierungsdruck wegen der politisch forcierten vorfristigen Auszahlung des IWF-Kredites, wird sich 2014 eine wichtige Kennzahl voraussichtlich wieder verschlechtern. Die mühsam und unter Aufwendung von Einmalmitteln in Größenordnungen von rund 10% des BIP unter 80% des BIP gedrückte Staatsschuldenquote wird, laut EU-Vorhersage, 2013 auf knapp 81% ansteigen und könnte den Schuldenrekord vom Sommer des Jahres noch überflügeln. Ungarn bleibt somit im Schnitt doppelt so hoch verschuldet wie vergleichbare Länder der Region, also PL, SK, CZ.

Der Volumenindex der Investitionen bis einschl. 1. Hj. 2013.

Budget-Verfassungsfalle könnte beim Fallenaufsteller zuschnappen

Für die Regierung Orbán bedeutet das zunächst einen Prestigeverlust, denn diese Zahl spielte bei der Erfolgs-PR immer eine zentrale Rolle, war sie doch die Kennziffer für den Grad des "auf den eigenen Beinen stehens". Sie bedeutet aber auch eine mögliche Verteuerung der Refinanzierung auf den Finanzmärkten. Vor allem aber stellt sich Orbán mit seiner in der Verfassung verankerten Schuldenbremse nun erstmals selbst ein Bein, denn er muss laut Grundgesetz die Quote zu bestimmten Terminen unter bestimmte Marken setzen, andernfalls wäre, ja ist der Haushaltsrat dazu aufgerufen, sein Veto für das nächste Budget einzulegen, was bis zur Auflösung des Parlaments und Neuwahlen führen könnte.

Orbán hatte sich diese Variante eigentlich einbauen lassen, um spätere Regierungen stürzen zu können, die Sache fällt nun auf ihn selbst zurück, doch glücklicherweise verfügt er ja noch über seine verfassungsändernde Mehrheit, womit er jederzeit Änderungen vornehmen kann.

Hinsichtlich der angedachten Verwendung der Devisenreserven der Nationalbank für ein
Forex-Umtauschmodell ergeben sich noch Unklarheiten über die Höhe der Schuldenquote für Ende des Jahres. Auch sollte man nicht darauf vertrauen, dass der Forint dauerhaft so gemütlich zwischen 290 und 300 HUF/EUR weiterschaukelt.

Die Regierung Orbán zögerte nie, mit "unorthodoxen Maßnahmen" oder "kreativen Instrumenten" die eine oder andere unpassende Entwicklung - zumindest statistisch - umzudrehen. Reicht das nicht, werden brutal Steuern erhöht oder erfunden, kleinere Korrekturen danach als “Sozialpolitik” verkauft. Wahltaktisch ging die Rechnung bis jetzt auf, ökonomisch nicht.

Von den Höhen der Makroökonomie in die Niederungen des Alltags: die Mehrwertsteuersätze für Lebensmittel, Grundnahrungsmittel. Europameister: Ungarn. Besserverdiener steuerlich entlasten, um sie “für Ihre Mehrleistung nicht zu bestrafen” und Stadien bauen ist wichtiger als den Ärmsten das Leben zu erleichtern. Der EU-Sozialkomitee-Präsident Malosse findet Orbáns “Instrumente außerhalb der Werkzeugikste” überigens ziemlich Klasse.

Konsum als stotternder Wachstumsmotor - soziale Unterschiede gottgegeben

Die EU sieht den Binnenkonsum als "Hauptantrieb des Wachstums", das dann allerdings kein organisches mehr ist, wenn Investitionen und Produktion nicht in gleichem Maße mitziehen, sondern lediglich ein paar Forint mehr ausgegeben werden, was also Einzelhandel und Importe anregt, nicht aber die originäre Wertschöpfung. Die EU bremst zudem den Regierungs-Enthusiasmus und verweist auf eine "anhaltend hohe Arbeitslosigkeit und massive Verschuldung" der Privathaushalte, zwei Kernthemen des ungarischen Elends, die trotz aufgehübschter Statistiken bei Ersterem und martialisch angekündigter Befreiungsschläge bei Zweiterem noch lange auf Wirtschaft, Volk und Gemüt drücken werden, zumal eine derart ständisch veranlagte Regierung wie die Orbánsche, für die soziale Unterschiede praktisch gottgegeben sind, ihre Prioritäten nicht gerade bei den "untersten" Schichten setzt.

Bruttomindestlohn im EU-Vergleich in Euro pro Monat. 2014 soll er von 98.000 auf über 100.000 in Ungarn steigen und Ungarn brüstet sich damit, dass die EU bestätigt habe, dass der Zuwachs mit knapp 10% binnen 3 Jahren der höchste in Europa gewesen sei. Brutto stimmt das, doch seit Orbán zahlen Mindestlöhner, so sie nicht viele Kinder haben, Lohnsteuern und andere Abgaben, raus kommen letztlich 65.000 HUF, also rund 200.- EUR für einen Vollzeitjob.

Vertrauen, ein in Ungarn unterbewerteter Wirtschaftsfaktor

Ansonsten bestätigt die EU, was jeder in Ungarn weiß, bekommt Deutschland und die Weltwirtschaft auch nur den Anflug eines Schnupfens, fetzt es Ungarn wieder auf die Intensivstation. Bemerkenswert ist nämlich, dass - in Summe über die letzten drei Jahre gerechnet - die ungarische Wirtschaft stagnierte, obwohl in diese Zeit mehrere namhafte Großinvestitionen im dreistelligen Euro-Millionen-Bereich (Audi, GM, Daimler etc.) mit entsprechenden Kapazitätsausweitungen fallen, was einiges darüber aussagt, wie es dem Mittelstand und der Kleinwirtschaft in Ungarn ergeht. Die
Investitionskennziffern außerhalb des EU-Mittelkosmos` und den Großkonzernen sind und bleiben deprimierend. Doch selbst das weiß der Premier in einen Erfolg umzumünzen: die sich verschiebenden Proportionen, also der wachsende Anteil der Industrieproduktion wegen der Schwäche des Klein- und Mittelstandes verkauft er als “Reindustrialisierung”, mit der er - anteilsmäßig - bald Deutschland überflügeln wird.

Und trotz der Kreide, die Orbán bei seinen Großinvestoren schluckt, erkennt die EU das "niedrige Zutrauen" in seine Wirtschaftspolitik, die fehlende Berechenbarkeit als eine Hauptbremse für ein natürliches Wachstum, das nicht nur durch das hektische Abrufen der EU-Mittel und ein paar Weltkonzerne getrieben wird. Mangelnder Kapitalzugang für KMU ist ein weiteres Problem, der durch das massive "Kredit für Wachstum"-Programm der Zentralbank nur partiell, um nicht zu sagen parteilich, gelöst wird.

EU fällt nicht auf Budapester Rechenkünstler rein

Hinsichtlich des Arbeistmarktes lässt sich die EU von Ungarn nicht an der Nase herumführen und stellt klar, dass Budapest
seine Erfolgsmeldungen "unter 10%", "höchste Beschäftigungsquote seit werweißwann" für sich behalten kann. "Beschäftigung wird fast nur über den öffentlichen Sektor, die Ausweitung der Kommunalen Beschäftigungsprogramme und die wachsende Zahl von Auslands-Pendlern" geschaffen, hingegen sieht man, dass "die (mittlere bis kleine, Anm.) Privatwirtschaft die Arbeitszeiten verkürzt, die Löhne und Gehälter stagnieren und auch entlässt, um die Profitabilitätseinbußen von 2012" wett zu machen, die Kommission erwartet weitere Arbeitsplatzverluste in der freien Wirtschaft und eine "zweistellige" Arbeitslosenquote bis 2015, trotz der "Rechenkünste".

Die Brotpreise sinken dank einer guten Ernte etwas, sie schossen seit 2010 nach oben. Doch der Mensch lebt nicht vom Brot allein...

Fazit: Ungarn schwimmt (nicht erst) seit 2010 als Postkrisenland auf den Konjunkturwellen seiner Werksmeister Deutschland und EU, weder strukturell noch strategisch kann die behauptete Neuaufstellung der Wirtschaft und ihrer sie steuernden Politik festgestellt werden. Das "Rückgrat" der Wirtschaft, der Mittelstand und die Kleinbetriebe leiden - wie unter den Vorgängerregierungen - unter einer zu hohen Abgabenlast, unter einem intransparenten Vergabewesen öffentlicher und EU-Mittel sowie unter der Kreditklemme. Die Regierung hat sich zu viel mit ideologischen Nebenkriegsschauplätzen (IWF, Bankensektor), Klientelpolitik (Flat tax, EU-Milliarden, Landvergabe, Tabakhandelsmonopol etc.) sowie potentiell unbezahlbaren Planwirtschaftsabenteuern (“Krieg” gegen Energieprovider, “informeller” Bankenmarkt, Atomrenaissance) befasst, die Bedürfnisse der die Ökonomie tragenden Klein- und Mittelbetriebe dabei vernachlässigt, was zu einem Investitionsstau, zur Massenabwanderung von Fachkräften, Innovationshemmung und einer partenernalistischen Wirtschaft führte.

So wird auch zukünftiges Wachstum nur bzw. überwiegend von außen an Ungarns Werkbänke herangetragen und / oder von der öffentlichen Hand bestimmt, kaum aber durch eigene ökonomisch-innovative Impulse befördert, zumal der Binnenkonsum aufgrund der sich verschlechternden materiellen Situation der Mehrheit der Ungarn nicht ernsthaft als Wachstumsmotor bezeichnet werden kann. Ungarns Wirtschaft ist also abhängiger von den großen Nachbarn und den EU-Milliarden als je zuvor, eingeklemmt zwischen Ideologie und Interessensgruppen und damit noch weiter von einer sozial und ökonomisch halbwegs ausbalancierten Marktwirtschaft entfernt als unter den Vorgängerregierungen seit der Wende.

cs.sz. / m.s. / red.

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