THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 32 - 2014 NACHRICHTEN 06.08.2014

 

Vom Sommerloch zum Abgrund: Nachrichten aus Ungarn

Ein  Bürgermeister lässt die israelische Staatsspitze "symbolisch" hinrichten, Minister Balog leugnet Deportationen von Roma, ein Filmfestival verbietet Roma-Filme, in Miskolc beginnen "Ghetto"-Räumungen, ein Drittel der Ungarn hat nichts gegen "Gewalt gegen Minderheiten" und die Polizei geht auf eine "fremdfinanzierte" Bürgerrechtsgruppe los. Orbán ist von der Oxford-Liste gestrichen worden, der Forint bleibt auf Talfahrt, die Anleihezinsen steigen. Das Wetter soll aber schön bleiben.

Der Bürgermeister einer ungarischen Gemeinde lässt symbolisch die israelische Staatsspitze aufknüpfen. Nur ein Akt der diesjährigen sommerlichen Passionsspiele in Ungarn...

Man konnte schon seit Orbáns Rumänien-Rede (hier Highlights, unsere Analyse und viele Leser-Reaktionen, hier der deutsche Volltext bei Pusztaranger und hier die amtliche englische Version bei der Regierung) erahnen, dass dieser Sommer sehr heiß wird.

Doch nicht nur der rechtsextreme Bürgermeister des 4.250-Einwohner-Ortes Érpatak, der am 2. August - symbolisch - die israelischen Staatsführer Netanjahu und Peres auf dem Dorfplatz hängen ließ und meinte, man müsse doch etwas gegen den "freimaurerischen Judenterror" unternehmen, leidet offenbar an einem Vier-Jahreszeiten-Sonnenstich. Details zu dieser absurden Show bei Pusztaranger. Erst als der Botschafter Israels in Budapest anmerkte, hier wurde "eine Grenze überschritten" - und die Israelis kennen sich, ganz wie ihre Gegenüber mit Grenzüberschreitungen durchaus aus - schreitet auch der ungarische Generalstaatsanwalt ein, um den Auftritt strafrechtlich aufzuarbeiten.

Sogar im heutigen Ungarn gibt es gegen solche Passionsspiele eine handvoll Paragraphen, mit der Anwendung allerdings ziert man sich meist, vor allem, wenn solche Auftritte keine große mediale Welle verursachen. Denn irgendein Ventil soll der Volkszorn schon haben und da ist es besser, der Mob sucht den Feind nicht in den eigenen Reihen... Auch da die staatliche Nachrichtenagentur MTI diesen Hetzauftritt einer Amtsperson in voller Pflichterfüllung und ganz "objektiv" promotete, - ihn also nicht verurteilte -, ließen sich Weiterungen nicht vermeiden. Hier bestünde im Rahmen der Erhöhung der nationalen Zuverlässigkeit durchaus noch Bedarf nach Feinabstimmung. Es kommt schließlich nicht nur darauf an, das Richtige zu sagen, sondern auch an den richtigen Stellen zu schweigen.

 

Apropos “offiziell” und “Nachrichtenagentur”, zum Thema reden und schweigen sei ein kleiner Einschub erlaubt. Denn überhaupt ist alles, was in Ungarn seit über vier Jahren vor sich geht nur ein Lese-, Verständnis- und höchstens ein Kommunikationsproblem, wie uns der Münchner Rechtsanwalt Dr. Michael Pießkalla in seinem konsequent satirischen und (jetzt eben nicht mehr) anonym betriebenen Web-Blog "Hungarian Voice" (Untertitel: Ruhm und Ehre meinem Freund und Bruder im Geiste Boris Kálnoky von der "Welt") immer so eindrücklich und verständlich erläutert, kommentiert von einer lustigen Rasselbande kleiner Forumstrolle, darunter auch ein paar Verbalnazis, die dem linken Mainstream auch schonmal die Cholera an den Hals wünschen oder Letzteren an die nächste Laterne...

Orbán mit Mussolini vergleichen. Da hat er doch Recht, der Herr Anwalt und sein Rattenschwanz, den linken “Herrenmenschen” fällt wirklich nichts mehr ein. Zumal, wie wir aus des Anwalts berufenem Munde erfahren, der "europäische Rechtsraum" in Gefahr gerät und zwar "endgültig", sollte die EU doch noch irgendwann die Einhaltung von Artikel-2-Grundrechten - gar in Ungarn - einfordern! Technische Fragen, ok, über Formulierungen kann man streiten. Orbán aber am Wiederaufbau des ständischen Paradieses aus Zeiten als des Anwalts Vorfahren noch an verantwortlicher Stelle in Budapest werkten, hindern? Niemals! Da kann einer sozial und geographisch noch so weit von Ungarn entfernt sein, die magyarische Logik wirst nicht los, - es muss doch was dran sein an dem "ewigen Blutbund", den Orbán einst beschwor und der sich bei Dr. Pießkalla im gnadenlosen Outing all der linksliberalen Schmierfinken niederschlägt, das ihm die öffentliche Genugtung und das patriotische Hochgefühl verschafft, das ihm in der Anonymität advokatischer Tagwerke vielleicht verwehrt geblieben ist.

Er habe in Ungarn bei Niemandem irgendwo Angst oder Verzweiflung gespürt, als er letztens mit dem Auto an den EU-Bauschildern Richtung Airport Budapest gefahren ist, die ihm zudem noch belegten, dass der Aufbau vorangeht. Und wenn ein Münchner RA sich die Budapester Baustellen schon selbst beschaut und Ungarn für angstfrei erklärt, wer sind wir, diese Expertise in Zweifel zu ziehen?!

Doch weiter mit den wirklich wichtigen Dingen: Die hohe Kunst des Schweigens an der richtigen Stelle (Hungarian Voice z.B. beherrscht diese in Perfektion, über das Elend des Volkes oder die Nichtigkeiten, die wir in diesem Beitrag beplaudern, wird dort z.B. konsequent geschwiegen), bleibt neben MTI bisher auch unserem "Superminister für Eh-Alles und die Zigeuner", Zoltán Balog (auch so ein Favorit von obigem Erklärbär) verschlossen, der, auch weil die a, 2.8. mit "den Juden" gerade alle Hände voll zu tun hatten, unseren Nazis im Rahmen der "Nationalen Romastrategie" die Bearbeitung der "Zigeuner" abnahm.

Anlässlich des Gedenktages an den Roma-Holocaust, 2. August 2014, schwadronierte Balog in einem Interview darüber, dass Ungarn niemals Roma in Vernichtungslager deportieren ließ. Womöglich war die Todesreise der 3.000 Roma, die am 2. August 1944 ins KZ Auschwitz-Birkenau zur Vergasung expediert wurden, genauso ein Sommercamp, wie die Evakuierung von Roma aus Gyöngyöspata vor ein paar Jahren vom Regierungssprecher zum Osterausflug getauft wurde. Oder waren es doch eher fremdenpolizeiliche Maßnahmen, als die uns der staatliche "Veritas"-Direktor (Wahrheits-Institut!!!) die unter Horthy verantworteten Deportationen "verkaufte"? Es ist viel einfacher: das offizielle Geschichtsbild lehrt: da Ungarn mit der deutschen Besetzung seine "Staatlichkeit" verlor, war es eben nicht das episch falsch verstandene Opfer-Ungarn, das deportierte, sondern Nazideutschland.

Überhaupt litten die heutigen Roma an der gleichen "schizophrenen Opfermentalität" wie die Juden, meinte Balog. Und die steht ihnen als "Volk ohne Geschichte" (Balog: "leider") wohl nicht zu. Schizophrene Opfer, das können wohl nur Völker mit einer mindestens 1000jährigen Geschichte sein, womit wir wieder beim Thema Nr. 1 des Sommers wären, dem
Besatzungsdenkmal, das ja laut Inschrift an die vielen jüdischen Tier- und Kultopfer erinnern soll, was auch durch einen vom Aussterben bedrohten Raubvogel schön dargestellt wurde.

Balog übrigens ist der Minister, der vom deutschen Bundespräsidenten Gauck, seinem Pfarr- und Dissidentenbruder vor nicht so langer Zeit
mit einem Orden behangen wurde, das hiesige amtliche Geschichtsbild betrachtete Gauck bei seinem kürzlichen Ungarn-Besuch als kooperationswürdig.

Während wir im Urlaub waren, arbeitete Pusztaranger fleißiger denn je und auch Balogs Anfall auf, - das Wort Skandal hätte bei der Äußerung Balogs nur seine Berechtigung, wenn es sich um etwas Außerordentliches, Untypisches gehandelt hätte.

Um überflüssige Diskussionen zu diesem unangenehmen Thema zu verhindern, hat das Filmfestival CineFest in Miskolc “zur Vermeidung politischer Konflikte und aus Sicherheitsgründen” Filme zum Thema Roma gleich ganz verboten. Details. Miskolc braucht eben keine intellektuellen Gutmenschlichkeiten, in Miskolc wird angepackt und zwar parteiübergreifend. Am Dienstag schleppte ein polizeilich-städtisches Räumkommando eine einbeinige Rentnerin aus ihrer Gemeindewohnung, weitere Familien sollen "in den nächsten Wochen" folgen. Vielleicht bekommt man das Viertel, in dem anstelle der Elendssiedlung ein Fußballstadion errichtet werden soll, bis zum Nationalfeiertag "zigeunerfrei". 200 Familien sollen für den 15 Mio. EUR-Stadionneubau "weichen". Sie bekommen bis zu 6.000 EUR Prämie für "den Kauf eines Hauses außerhalb der Stadt".  Hier ein aktualisierter (7.8.) Bericht zum Thema.

Miskolc handelt dabei ganz im Sinne der echten ungarischen Bevölkerung. Eine aktuelle Umfrage von Szonda-Ipsos belegt, dass rund ein Drittel (was ja in Ungarn bekanntlich 2/3 sind)  "amtliche Gewaltanwendung gegen Minderheiten" o.k. findet, wobei es realtiv egal scheint, um welche Art Minderheit und welche Hintergründe es geht. Die "Verteidigung nationaler und familärer Werte und der persönlichen Freiheit" genügt als ungefähre Motivation. Allerdings sind mit 29% Zustimmung doch die Roma des Magyaren liebster Prügelknabe, gefolgt von Drogenhändlern, Juden und Schwulen. Die Zustimmung ist bei Jobbik-Anhängern am größten, gefolgt von den Regierungsparteien, während die Weicheier von der "Linken" in geringerer Zahl zum Prügel greifen lassen würden, ganz abgeneigt aber auch nicht sind.

Apropos anpacken: Premier Orbán wurde dieser Tage von der Liste der berühmten Studenten und Dozenten der Elite-Uni Oxford gestrichen, er darf sich fürderhin nicht mehr "famous Oxonian" nennen. Seine oben genannte "Freiheit ist Scheiße"-Rede soll dabei eine gewisse Rolle gespielt haben. Zwar sind sich Briten und Orbán in ihrem Europa-Hass eins, allein der freiheitlich-demokratische Virus ist den Insulanern nicht so einfach auszutreiben. Kleine Ironie am Rande: Orbán studierte mit Hilfe der Soros-Stiftung in England, das wäre doch wieder ein Thema für den Bürgermeister von Érpatak...

Apropos austreiben: Die Polizei des V. Budapester Bezirks geht nun mit blankem Bajonett auf die "grüne" NGO Ökotárs los, denn die Staatsanwaltschaft hat noch nichts Greifbares in der Hand. Ökotárs ist eine der Bürgerrechtsgruppen, die von den Norway Grants mitfinanziert wird und sich daher des Vorwurfs der Vertretung von Fremdinteressen ausgesetzt sieht. Da man gegenüber der von Liberalenjäger Lázár angesetzten "Regierungskontrollstelle" KEHI (die übrigens nicht die Regierung kontrolliert) die Herausgabe von Dokumenten dazu verweigerte, weil man vertraglich an die in Brüssel angesiedelte Vergabe- und Monitoringstelle gebunden ist (was auch bilateral so vereinbart wurde, die Details in diesem Beitrag), hetzt man nun die Polizisten ins Büro, die ultimativ die Herausgabe jener Dokumente "im Zuge der Ermittlungen" fordert, zu deren Auslieferung man gar nicht berechtigt ist. Die Polizei will nun wissen, "wer Ökotárs authorisierte, zu entscheiden, wer bei der Verteilung der ausländischen Gelder involviert sein sollte und welche Summen an wen geflossen sind." Gut, diese Fragen sind alle längst beantwortet, von den Norwegern selbst, aber fragen kostet ja nichts. Ökotárs fragt nun Anwälte (vielleicht in München?), was sie machen sollen, die Polizei behält sich den Sturm auf die Büros vor, ein Vorrecht der Exekutive.

 

Wer sich wunderte, warum der Forint nicht, wie sonst üblich, zu Ferienbeginn wundersam erstarkte, ja, der hat wohl lange nicht mehr Zeitung gelesen. Forex-Gesetze, kreative Finanzplanung, Schuldenmanagement, Zinspolitik, Kaufrausch im Bankensektor und ein etwas sonderbarer Nationalbankchef drückten die Landeswährung mittlerweile auf ein 30-Monats-Tief, am Mittwoch notierten wir binnen einer Stunde einen Move von 315,9 zu 316,6 für einen Euro. Das freut vielleicht den Euro-Touristen, der normale Ungar an sich ist der Verzweiflung wieder näher. Gleichzeitig zogen die Zinsen für 10jährige Staatsanleihen um 20 Baispunkte nach oben auf 5%, womit sie sich binnen Jahresfrist um fast 2 Prozentpunkte erhöhten. Auch das ist für die Steuerzahler keine gute Nachricht, - selbst wenn sie solche Anleihen erwerben.

30 Grad und mehr, nur ab und an eine Husche. Das Wetter in Ungarn bleibt schön.

red.

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