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(c) Pester Lloyd / 40 - 2012   WIRTSCHAFT 03.10.2012

 

Die Gulaschwirtschaft

Orbán und der IWF: Wunsch und Wirklichkeit in Ungarn

"Ungarn braucht keinen IWF-Kredit, wir würden aber gern davon profitieren, doch nur zu guten Bedingungen.” Folgt man Orbáns Argumentation - und sehr viele tun das noch - will der IWF den Ärmsten im Lande das letzte Hemd rauben. Das wäre den neoliberalen Globalisierungslobbyisten schon zuzutrauen, doch eigentlich hat das die Orbán-Regierung durch ihre ständisch-stümpernde Wirtschaftspolitik längst selbst erledigt. Gerade wurde das Defizitziel nach unten korrigiert. Ein Faktencheck.

Der Dampf verhüllt den Inhalt, ein schönes Durcheinander. Ungarn schmort im eigenen Saft.
Der Chefkoch will es so...

Ein Sicherheitsnetz - wie im Zirkus?

„Wir können unsere finanziellen und wirtschaftlichen Probleme auch ohne den IWF lösen, wenn wir unsere eigenen Ressourcen nutzen. Denn Ungarn ist heute stärker, als es in der Vergangenheit war, und von niemandem abhängig.” Das verkündete Premierminister Viktor Orbán am Montag in einem Interview. „Allerdings”, so fügte er hinzu, „würde das deutlich mehr Energie und Geld kosten, als ein IWF-Kredit.” Außerdem sei es einfacher, wenn „ein Sicherheitsnetz unter uns ist.”

Aus diesem Grund, so Orbán weiter, wäre ein „gutes Kreditabkommen mit dem IWF ein Segen für Ungarn.” Auf ein schlechtes Abkommen, das sagte Orbán allerdings auch klar und deutlich, werde Ungarn sich auf keinen Fall einlassen. „Diesen Fehler haben die Sozialisten im Jahr 2008 gemacht und es war sehr schlecht für Ungarn. Wir werden das nicht tun.” Es kommt nicht in Frage, dass wir für einen solchen Kredit die Löhne, die Renten oder das Kindergeld kürzen, betonte er.

Die Einschätzung hinsichtlich des schlechten Deals der "Sozialisten" 2008 negiert die Situation, in der sich das Land durch die Lehman-Krise befand: niemand wollte mehr Kredit geben, nicht einmal zu Zinsen über 10%, Spekulanten griffen den Forint und BUX-Unternehmen gezielt an, das Land wäre binnen Wochen zahlungsunfähig gewesen. Die 20 Milliarden Euro waren ein reiner Rettungskredit, damals tatsächlich alternativlos.

"Wir brauchen einen IWF-Kredit nicht, wir benötigen nur ein vorbeugendes Sicherheitsnetz, falls der Euroraum seine Krisen weiter nicht lösen kann." V. Orbán

 

Ungarn verhandelt mit dem IWF gerade über einen Stand-by-Kredit von bis zu 15 Milliarden Euro. Die Zinsen für einen solchen lägen mit 2,5% weit unter den Zinsen, die auf gleichlanglautende Staatsanleihen am freien Markt zu zahlen wären (je nach Lage 6-7%, nach oben offen). Der Deal wäre also vernünftig, wenn da nicht die Frage der wirtschaftspolitischen Bedingungen wäre, die der IWF in erzieherischer Absicht an solche Kredite knüpft: eine durch Politiker der Regierungspartei lancierte, nicht verifizierte Forderungsliste des IWF, genannt “Todesliste”, die auch Sozialabbau gefordert haben soll, wurde durch Gegenvorschläge der Regierung beantwortet. Zunächst sah es so aus, als könnte man die Verhandlungen gezielt platzen lassen, nun rudert man wieder einen Schritt zurück. Dahinter steckt ein Plan. Lesen Sie dazu mehr in: Katz´ und Maus - wer ist wer?

Offene Streitpunkte mit dem IWF sind u.a.: die Einbeziehung der Zentralbank in die Finanztransaktionssteuer und die Unabhängigkeit selbiger, strukturelle Reformen im öffentlichen Dienst, Reduzierung von Steuergeld kostenden Zuschüssen an staatliche Unternehmen (Bahn, Öffis etc.), eine verlässliche Budgepolitik (!). Rentenkürzungen hatte der IWF explizit bisher nicht gefordert, lediglich u.a. die Abschaffung der Rentnerfreifahrt. Einsparungen im Sozialbereich gehören sonst jedoch durchaus zum Standardrepertoire der Multinationenbank, die sich so für das von Orbán propagierte Feindbild vom neoliberalen Gloablisierungsmonster, gegen das es sich zu behaupten gilt, empfiehlt.

Der IWF, das ist Fakt, ist Teil des Systems, das europaweit gescheitert ist. Die IWF-Milliarden halten dieses System künstlich am Leben. Sich dagegen aufzulehnen, ist mehr als legitim, die Frage ist nur, worin man einen neuen Weg sieht und welchen Preis das eigene Volk dafür zahlen muss.

"Brüssel ist das neue Moskau" V. Orbán

Die Alternative sieht man in Budapest in der
"Ostöffnung" Richtung China, Kasachstan, aber auch Aserbaidshan, Iran, Saudi-Arabien und andere zweifelhafte Regime werden als "neue Partner" umworben. Dass man sich damit zwangsläufig in neue Abhängigkeiten begibt und auf gefährlichem Parkett agiert, war teilweise schon zu bemerken. Der Axtmörder-Skandal oder die geheimniskrämerische Mauschelei mit China waren nur der Anfang. Gleichzeitig entfernt Orbán sich und seine Anhänger gezielt von Europa, Ungarns wichtigstem Markt und der einzig möglichen Gemeinschaft. Brüssel sei das neue Moskau, heißt es aus dem Munde des Regierungschefs der 2010 die EU-Ratspräsidentschaft ausübte. Auf regierungsfreundlichen Jubeldemos erscheinen die Europasterne als Davidssterne, was fast noch als mildester Ausdruck des alt-neuen, zumindest auflebenden Antisemitismus gelten kann.

Orbáns Propaganda hinsichtlich des IWF, den er ja 2010 schonmal mit großem Getöse und den Worten aus dem Land warf: wenn die wiederkommen werde ich gehen, ist an Schlichtheit und Dreistigkeit kaum mehr zu überbieten: Die sozialen Verwerfungen in Ungarn entstammen nämlich nachweislich fast ausschließlich hausgemachten Maßnahmen. So sanken die Reallöhne in diesem Jahr im Schnitt bereits um 4%, für die untersten Einkommensschichten, also die Mehrheit der Bevölkerung, weitaus stärker. Die Einbußen hängen mit der hohen Inflation von derzeit um die 6% zusammen, die durch die von der Regierung betriebenen Leitzinssenkungen der letzten Zeit befeuert wird. Höhere Inflation bedeutet auch geringere Staatsschulden.

"Die Flat Tax ist, weil sie proportional wirkt, das gerechteste Steuersystem der Welt." Nationalwirtschaftsminister Matolcsy

Die vom Orbán-Kabinett betriebene ständische Klientelpolitik tat ihr übriges. Umverteilung von Unten nach Oben ist Regierungsprogramm: durch die Flat Tax auf alle Einkommen werden hohe Einkommen enorm entlastet, früher steuerbefreite Lohngruppen im Mindestlohnbereich (97.000 HUF bzw. 330.- EUR) bis ca. 220.000 Forint brutto (800.- EUR) wurden steuerpflichtig und hatten Einbußen beim Nettoeinkommen gegenüber dem vorherigen Steuersystem. Die Steuergeschenke der Regierung nutzten die Bezieher höherer Einkommen jedoch weder zum Binnenkonsum, noch für Investitionen. Die Flat tax bedeutet direkte Einnahmeeinbußen von rund 500 Mrd. Forint im Jahr (1,7 Mrd. EUR) sowie weitere ca. 300 Mrd. durch
Lohnkompensationen, rund 75% der Angestellten allein im öffentlichen Dienst mussten auf diese Weise entschädigt werden, damit sie wenigstens nominal nicht weniger bekamen als vor der "großen, gerechten Steuerreform".

"Wir werden Ungarn wieder aufbauen,
das Land auf eigene Füße stellen" V. Orbán, 2010 ff.

Der Arbeitsmarkt
verlor binnen eines Jahres rund 30.000 Stellen, der Staat fängt immer mehr Langzeitarbeitslose in kommunalen Beschäftigungsprogrammen unter dem Mindestlohn auf, die Geld kosten, aber keine Perspektiven bieten. Ein sogenanntes "Arbeitsschutzprogramm", das rund 300 Mrd. Forint kostet, entlastet nur die Arbeitgeber von den Sozialabgaben, ändert aber nichts an den prekären Einkommensverhältnissen der meisten Beschäftigten und vergrößert so die Armee der Billiglöhner noch mehr.

Eine erkennbare und planbare KMU-Förderpolitik existiert nicht, EU-Gelder werden verschlampt oder fehlgeleitet, dafür engagiert sich der Staat immer häufiger auf teils abenteuerliche Weise in verschiedenen als "nationalstrategisch bedeutsam" deklarierten Branchen selbst, es ist geradezu eine neue Planwirtschaft im Anmarsch. Im Agrarbereich vergibt der Nationale Bodenfonds unter dubiosen Umständen Land in regierungsnahe Kreise, während man geradezu hysterisch Taschenverträge mit Ausländern nachjagt, eine anonyme ministerielle Kommission entscheidet über die Vergabe von Standorten für Investoren im Handel. Die "unorthodoxe" bzw. chaotische Steuerpolitik mit Sondersteuern, neuen Steuern (Chips, Telefonieren, Unfallsteuer etc. etc.), Superbrutto, Lohnkompensationen etc. verunsichert viele Unternehmen und verhindert Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen.

"Das Forex-Ablösemodell ist direkte Sozialpolitik"
Nationalwirtschaftsminister Matolcsy

Die Verschuldung der privaten Haushalte ist eines der sozialen Hauptzeitbomben in Ungarn, geschätzt 800.000 Haushalte sind den Versprechungen vom billigen Geld in der gedankenlosen "Boom-Zeit" der sozialliberalen Regierungen auf den Leim gegangen und tief in die roten Zahlen gerutscht. In Ungarn bekamen jahrelang Menschen Kredit, die in vielen westlichen Ländern nicht einmal einen Termin beim Bankberater bekommen hätten.
Durch ein gesetzliches Kreditablösemodell, das als große Sozialmaßnahme propagiert wurde, konnten Schuldner von Forex-Hypothekenkrediten, die durch den Währungsverfall aus dem Ruder geratenen Kredite zu Jahresbeginn durch Einmalzahlungen zum Vorzugskurs auslösen. Wie sich jedoch herausstellte, eine Maßnahme, die nur jenen nutzte, die über Zugang zu ausreichend Barmitteln verfügten.

Die Rate notleidender Kredite steigt weiter an, zum Teil auf 15-20% am Gesamtportfolio und hat ihren Zenit noch immer nicht erreicht. Zwar kann man auch heute noch, unter bestimmten Bedingungen, Forex-Kredite in Forint-Kredite umtauschen, jedoch sind die Forintzinsen so hoch, dass dies den Schuldnern kaum eine Alternative zu den schwankenden Währungswechselkursen bietet. In vielen Haushalten wird über die Hälfte des verfügbaren Einkommens durch Ratenzahlungen gebunden. Seit der Aufhebung des Moratoriums für Zwangsversteigerungen, stiegen diese in 2012 bereits auf über 11.000 an.

"Von 47.000 Forint kann man heute in Ungarn ganz gut leben." Nationalwirtschaftsminister Matolcsy

Hinzu kommt die Belastung durch erhöhte Verbrauchssteuern und die überproportionale Teuerung bei Wohn- und Wohnnebenkosten sowie einigen Grundnahrungsmitteln, die wiederum vor allem die Ärmsten trifft. Auch die Zuzahlung auf Medikamente wurde sehr stark zurückgefahren, ohne auf die Preispolitik der Pharmabranche einzuwirken. Viele ältere Menschen können sich notwendige Medikamente nicht mehr leisten. Eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel (heute 27% - Europarekord!) wie in anderen Ländern üblich, wird seit zwei Jahren hinausgezögert. Die Mindestrente und die Waisenunterstützung wurde seit zwei Jahren nicht an die Inflation angepasst. Die Sozialhilfe beträgt 100.- EUR im Monat, ebenso die Mindestrente.

Durch die kommunalen Beschäftigungsprogramme kann es ein Langzeitarbeitsloser auf maximal 47.000 Forint, abzüglich 16% Flat tax, also rund 145.- EUR bringen, wovon man in Ungarn nicht leben kann, auch wenn der Wirtschaftsminister das Gegenteil behauptet. Dafür muss der Betroffene jedoch bereit sein, 40 Stunden die Woche schwere körperliche Tätigkeit, unter Umständen auch fern des Wohnortes zu verrichten und ist dann noch auf die Gnade lokaler Aufseher angewiesen, die ihn bei "Verstößen" gegen die Regeln drei Jahre von jeglicher staatlichen Hilfe ausschließen können. Immerhin, so dankt es das Volk, beaufsichtigt man so die Zigeuner... Mittlerweile denkt man in der Regierung bereits über eine "Deckelung" der Sozialabgaben nach, offenbar müssen Schmerzgrenzen weiter verschoben werden.

"Die verlogene Budgepolitik der sozialliberalen Ära wird nie wiederkehren" - Wahlprogramm des Fidesz

Insgesamt ist die Verarmung während dieser Legislaturperiode dramatisch angestiegen. Die Ursachen dafür liegen längst nicht nur bei dieser Regierung, doch deren Maßnahmen zur Bekämpfung sind zumindest kontraproduktiv, teilweise kalkuliert asozial, werden aber, wie im oben zitierten Interview, mehr oder weniger geschickt der EU, dem IWF und "den internationalen Finanzmärkten" angelastet.

 

Ähnliches gilt für die Haushaltspolitik. Das für 2013 aufgestellte Budget ist schon lange nicht mehr haltbar und wird tagtäglich durch Korrekturen, Rechenfehler, falsche Vorhersagen und Sondermaßnahmen löchriger. Gerade erst hat die Nationalbank der Regierung attestiert, durch "Arbeitsschutzprogramm" und einige andere politische Sonderwünsche ein weiteres Loch von über 400 Mrd. Forint (1,2 Mrd. EUR bzw. 1% des BIP) zu reißen. Dabei sind die Fehlkalkulationen durch überhöht veranschlagte Steuereinahmen und die "Straffung der Steuereintreibung" (rund ein weiteres Prozent) noch gar nicht berücksichtigt. Am heutigen Mittwoch hat die Regierung eine heilige Kuh geschlachtet: das Defizitziel für 2013 wurde von 2,2% auf 2,8% des BIP korrigiert, was die "Manövrierfähigkeit" um ca. 150 Mrd. Forint erhöht. Angesichts der vorgetragenen Manöver ist auch das nur eine Zwischenlösung, die Flickschusterein nimmt kein Ende.

”Kehrt der IWF ins Land zurück, werde ich gehen” V. Orbán 2010

Andere Länder der Region belegen, dass weder die Weltwirtschafts- noch die Eurokrise und auch nicht der IWF allein oder überwiegend Schuld an den Fehlentwicklungen in Ungarn in den letzten zwei Jahren tragen können. Es ist vielmehr die Diskrepanz zwischen Wunschvorstellungen und Realität der Hauptgrund dafür, dass der richtige Weg in der Volkswirtschaft bisher immer wieder verfehlt wurde.

Das Phänomen, dass der Plan die Realität oder die Ideologie die Vernunft überragt, ist ja kein Neues, sondern die einzige Chance für politische Versager, sich an der Macht zu halten. Es erinnert frappant an die gescheiterte Funktionsweise der Kádár-Zeit und des "real existierenden Sozialismus" insgesamt. Auch hier ging die zunehmende wirtschaftliche Insolvenz mit politischer Gängelung und Entrechtung der Bürger Hand in Hand. Unter anderen Flaggen und Sprüchen nähert sich die Orbán-Regierung so nicht nur den eigenen Vorgängern, sondern genau dem System an, dass man öffentlich am meisten verdammt, in der Wirtschaft und in der Politik.

ms. / cs.sz. / red.

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