THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 22 - 2014 POLITIK 27.05.2014

 

Europas Stinkefinger: Warum Ungarn zur (r)echten Gefahr für Europa wird

Orbán geht auf Konfrontationskurs zur "eigenen" EVP. Seine 12 EU-Abgeordneten sollen dem EVP-Kandidaten Juncker die Gefolgschaft verweigern. Dabei waren es gerade die "konservativen Volksparteien", die dem ungarischen Alleinherrscher in den letzten vier Jahren immer wieder den Rücken freihielten - im Zweifel auch gegen die europäischen Werte. Dass es auch jetzt nicht nur um die übliche Schacherei geht, sondern das "Modell Ungarn" die EU-Perspektiven grundsätzlich gefährden kann, lohnt mehr als nur einen Gedanken. UKIP? Front National? Fidesz ist das Problem. Vielleicht werden nun auch die "Konservativen" wach...

“Sucht Euch einen Finger aus...” So gereizt wie hier bei einer EU-Pressekonferenz lüftet Orbán manchmal seine Maske aus Eloquenz und Charme. Dabei erscheint: Rumpelstilzchen?

UPDATE, 28. Mai: Zunächst müssten die "Führer der Europäischen Union Entscheidung bezüglich der nächten paar Jahre der Gemeinschaft treffen", bevor "Personalfragen auf die Agenda gesetzt" werden könnten. Das sagte der ungarische Premier Orbán am Dienstag nach dem EU-Ratstreffen in Brüssel und hielt sich dabei offenbar selbst für einen “Führer der EU”. Der "Sieg der EVP sollte nicht automatisch zu konkreten Nominierungen" führen, so Orbán weiter, der sich in seiner Ablehnung des Luxemburgers Juncker mit dem Briten Cameron in einer Fraktion wiederfindet. Auch Angela Merkel hielt sich andere Optionen offen, wohl auch als Machtstatement gegenüber dem EU-Parlament, dass es wagte, sich mehrheitlich hinter "ihren" Kandidaten zu stellen. Warum der Wahlsieger nicht nominieren soll, erklärte Orbán indes nicht - es ist demokratisch auch nicht erklärbar.

Orbán zog vor internationalen Kameras seine übliche Show von "den Doppelstandards", dem "Europa der Nationen" und der "Kompetenzüberschreitung der Kommission" sowie dem "fehlenden Respekt gegenüber Ungarn und seiner Regierung" ab und behauptete, dass bestimmte Kräfte (dazu zählt er eben auch Juncker sowie die ebenfalls aus Luxemburg stammende Intimfeindin, Kommisarin Reding), versucht hätten die "Lissaboner Verträge ohne Authorisierung zu ändern". Das müsse künftig verhindert werden. Besonders echauffierte er sich über die Rufe, sein Fidesz und Berlusconis Forza Italia aus der EVP-Fraktion zu schmeißen.

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Ungarns Ministerpräsident Orbán hatte bereits im EU-Wahlkampf seine Anhänger auf weitere "unvermeidliche Schlachten" und Kämpfe mit der EU eingestimmt. Vordergründig benannte er dabei Maßnahmen im Rahmen seiner "Befreiungstheologie": die beim kurzsischtig gehaltenen Volk natürlich gut ankommenden Preisdiktate und Verstaatlichungen gegen Engergiemultis, wohl unvermeidliche Eingriffe in die Vertrags- und Kapitalfreiheit beim anstehenden Zwangsumtausch von Forex-Krediten, diverse Nationalisierungsprojekte jenseites europäischer Ausschreibungsregularien, aber auch andere "volksnahe" Anliegen wie die "Verteidigung" solcher "Hungaricums" wie die "falsche Akazie", die den "transparentesten Honig Europas" liefert sowie den steuerfreien Pálinka für den Volksrausch, diesen “Way of Life”, wie der Landwirtschaftsminister meinte. Besonders national aufgebauscht wird der Kampf um die "ungarische Erde", also die Verteidigung des neuen Bodengesetzes, das den Erwerb von Boden für Ausländer Eu-widrig auf einen Hektar beschränkt und Enteignungen bei weitgehendem Ausschluss des Rechtsweges ermöglicht, während sich seit Jahren Fidesz-Günstlinge ungeniert und im großen Stil im “Nationalen Bodenfonds” bedienen.

Europa ist in Ungarn Feindbild, nicht Zukunftsvision

Die zur Rechtfertigung gebrachten Stehsätze von der "Verteidigung ungarischer Interessen gegen die Angriffe Brüsseler Bürokraten", die nichts anderes im Sinne hätten als "die Gier der Multis und des internationalen Finanzmarktes" zu befriedigen und dabei sogar frontal "ungarische Familien attackieren" sind reine Heuchelei, die zwei Zwecken dient: 1. Futter für das eigene und das bedrohlich erstarkte (“Die Geister, die ich rief...) rechtsradikale Wahlvolk, Europa als Feindbild 2. Überdecken des Raubzuges am eigenen Land.

Punkt 2 erklärt denn auch die kurz vor der EU-Wahl postulierte Ablehnung des EVP-Kandidaten Juncker seitens der von Fidesz entsandten 12 Mandatare. Im Inland wird das allerdings mit Punkt 1 überdeckt, einschließlich der Entfernung der EU-Flagge vom Parlament - genehmigt vom Fidesz-Parlamentspräisdenten!

Der Stinkefinger als "Dank" für erhobene Zeigefinger

Juncker - so die Variante für die Anhängerschaft - stehe für die Wiederherstellung des Stauts quo ante, also jenes EU-Standes vor der Lehman-Krise, einschließlich des Rates der Regierungschefs als Machtzentrum der EU, der für die fehlerhafte Prioritätensetzung zu Gunsten der Finanzakteure auf dem Rücken der Bevölkerungen, verantwortlich ist, der uns sowohl in die Krisen führte als auch das Erstarken antieuropäischer Kräfte befeuerte.

Mit dem so sehr berechtigt kritisierbaren Juncker - und das erwähnt Orbán natürlich nicht - würde aber auch ein Politiker EU-Kommissionspräsident, dem die Einhaltung der EU-Regularien wichtig sind, der - in den Grenzen des Mainstreams - für einen möglichst breiten Konsens zwischen den Fraktionen bei der Weiterentwicklung steht und mit dem eine schrittweise Zersetzung des europäischen Projektes nicht zu machen ist. Juncker kritisierte Orbán nicht nur einmal und nicht nur für "technische Fragen".

Das - wir kennen das aus der ungarischen Politik bereits zur Genüge - vergisst der nachtragende, rachsüchtige Orbán nie! Die Liste der personae non grate in der EU ist in vier Jahren lang geworden und auf denen stehen nicht nur Linke, Liberale und Grüne, sondern immer mehr auch Konservative. Dabei war es gerade die EVP, die ihm vier Jahre den Rücken freigehalten hat und nie mehr als einen erhobenen Zeigefinger ins Feld führte. Zuletzt warf sich sogar EVP-Präsident Daul selbst in den ungarischen Wahlkampf um dem Ministerpräisdenten, der "stets die Wahrheit sagte" zu helfen. Orbán antwortet nun - zum Dank - mit seinem Stinkefinger.

Orbán, dessen offenes Ziel es ist, so viel wie möglich EU-Gelder zu beziehen bei so wenig wie möglich Kontrolle und Zugeständnissen an das Gemeinschaftsrecht (von dem Werte-Projekt braucht man in diesem Zusammenhang gar nicht mehr reden) wirft seine 12 Befehlsempfänger in Brüssel in die Waagschale, weil er weiß, dass die Merkel-geführte EVP-Fraktion geschwächt aus den Wahlen hervorgegangen ist und ihn womöglich braucht.

Großbritannien ist eine Macht, Ungarn nur eine Insel

Orbán spekuliert darauf, die Stimmen seines "dreckigen Dutzends" eintauschen zu können für Zugeständnisse zu seinen strukturellen Umbauten: die EU möge ihn beim Bodengesetz in Ruhe lassen, bei dem
bis hin zur Mittelsperrung in Frage gestellten Abrechnungssystem für die EU-Milliarden und sonstigen Marktaufteilungen in seinem Lande walten lassen und vor allem im Bereich Demokratie- und Rechtsstaatsabbau bzw. der anlaufenden Umwandlung in einen präsidentiellen Führerstaat die Augen zudrücken. Orbán weiß, dass er es mit letzterem Ansinnen bei den konservativen Regierungen in Europa nicht allzu schwer haben dürfte. Bei Juncker aber schon. Der ist noch zu sehr Demokrat und viel zu sehr Europäer. Übersetzt in den Orbánschen Neusprech: er verweigert Ungarn den Respekt, der ihm zusteht.

Orbán spielt sich - in für Politopathen typischer völliger Verkennung der eigenen Möglichkeiten - ein bisschen als Großbritannien Osteuropas auf, denn auch Cameron - von seiner eigenen Großmäuligkeit und der UKIP existentiell vor sich her getrieben - findet seine Politik in der EVP-Fraktion längst nicht mehr gespiegelt. Doch Großbritannien ist nicht nur eine Macht, sondern auch ein Nettozahler, Ungarn nur eine Insel, die ohne EU-Gelder heute nicht mehr existieren könnte. Seine obesssive und fast devote Hinwendung zu Russland und anderen "potentiellen, strategischen Partnern" wie der Türkei, Saudi-Arabien, China und sogar den Iran, diese
"Ostöffnung" vollführt er bei gleichzeitiger "Westschließung". Orbán ist also ein Verräter am europäischen Projekt, nicht der unwichtige kleine Moskau-Spion in Jobbik-Reihen, auf den Fidesz so dankbar mit dem Finger zeigte.

Fidesz ist europafeindlich, Orbán ein politischer Betrüger

Orbán, dieser
Karpaten-Chavéz - begibt sich nicht nur in gefährliche ökonomische Abhängigkeiten, wie den ökonomisch halsbrecherischen 10-Mrd-EUR-Kredit aus Moskau für den AKW-Ausbau, sondern er - als charakterlich instabiler, nach Selbstbestätigung dürstender, eitler Pfau für Größenwahn aller Art leicht empfänglich - kopiert seine neuen Partner auch politisch: nach Innen durch die strukturelle Einschränkung von Grund- und Bürgerrechten und die Verhinderung demokratischer Kontrolle der Macht, nach Außen durch seine immer abenteuerlichere Politik von "Schutz und Vertretung aller Ungarn im Karpatenbecken", die ihn sogar arglos am ukrainischen Pulverfass mitzündeln lässt.

Das Ende der Ära Orbán ist zeitlich noch nicht absehbar, aber es steht dennoch fest: lässt Europas Führung, heißt sie Schulz, Juncker oder in Wirklichkeit Merkel, Ungarns Alleinherrscher gewähren, steht Ungarn letztlich demokratisch und
finanziell ruiniert und ökonomisch geplündert als isoliertes Beispiel gesamteuropäischen Scheiterns da. Es ist Zeit zu erkennen, dass Orbán ein politischer Betrüger und Fidesz eine europafeindliche Kraft, Ungarn derzeit als destruktives Mitgliedsland und als brandgefährliches Exempel einzustufen ist.

Orbáns "Erfolgsmodell" als Blaupause für Front National, UKIP und Co.

 

Orbán sagte vor nicht so langer Zeit, dass er "Ungarn als Labor" betrachte, dahingehend, wie die EU insgesamt sich künftig zu entwickeln habe. Er meinte damit die "politische Stabilität", also die Zerstörung gesellschaftlichen Dialogs, demokratischen Kultur und ihrer Institutionen, dem Verfassungsputsch. Genauso aber die ständestaatliche Arbeits- und Steuerpolitik und das massenhafte "der Arbeit zuführen" entmündigter, aber gut beaufsichtigter Untertanen in unterbezahlte und perspektivlose Pseudobeschäftigung, begleitet von amtlich rassistischen Auswüchsen, im Regierungssprech: Vollbeschäftigung.

Zusammen mit der nationalistischen, geschichtsfälschenden Gehirnwäsche, über die stetig steigende Medienmacht, das Kalkül mit Rechstextremismus als Polit- und Machtfaktor, bis hin zur ethischen Verunstaltung der kommenden Generationen im Staatsschulwesen, ist das potentielle europäische Zerstörungspotential des Modells Orbán sogar größer als jenes, das aus den akuten Problemen in Griechenland und Co. erwachsen ist. Man stelle sich nur vor, UKIP, Front National oder FPÖ benutzen Orbáns "Erfolgsgeschichte" dereinst als Blaupause...

Wann springen die "Volksparteien" über ihren Schatten?

Mal abgesehen davon, dass es sehr offenbarend ist, wenn ein "Volkstribun" wie Orbán das Volk indirekt als seine Laborratten tituliert, tut die EU - von wem auch immer geführt - gut daran, die Drohung vom "Modell Ungarn" ernst zu nehmen, endlich die durchaus vorhandenen Gegenmittel einzusetzen und Ungarn sowie dem Antidemokraten an dessen Spitze seine Grenzen aufzuzeigen.

Dass man Gemeinschaftgelder nicht ohne ein Minimum an Gemeinschaftssinn, - zu dem nicht nur die EU-Binnenmarktregeln, sondern auch unsere freiheitlich-demokratischen Grundwerte gehören -, erhalten kann, wäre - neben dem Ausschluss aus der EVP - ein sehr einfach realisierbarer und ungemein effizenter erster Schritt. Die "Volksparteien" müssten nur über ihren Schatten springen...

Marco Schicker, Chefredakteur

 

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